
Philosophin Heller gestorben "Ich hatte nie Angst"
Stand: 20.07.2019 10:22 Uhr
Furcht hat sie nicht gekannt, dabei hätte die ungarische Philosophin Agnes Heller oft genug Grund dazu gehabt in ihrem Leben. Mit 90 Jahren ist die Intellektuelle und Orbán-Kritikerin nun gestorben.
Von Clemens Verenkotte, ARD-Studio Wien
"Ich hatte nie Angst. Ich glaube, Angst ist eine schlechte Motivation, und ich glaube immer, dass das Schlechteste Menschen passiert, wenn sie Angst haben."
Das darf als ihr Lebensmotto gelten: niemals Angst haben - auch nicht vor der größten, übermächtigen Bedrohung. Obgleich Ungarns bedeutendste Philosophin oft dieser maßlosen Bedrohung ausgesetzt war.
Vater ermordet in Auschwitz
Agnes Heller, 1929 in Budapest geboren, erlebte eine wohl behütete Kindheit in ihrem jüdischen Elternhaus. Als Hitlers Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg entfesselte, sorgte ihr Vater, ein Rechtsanwalt, für die Ausreise zahlreicher Juden aus Ungarn. 1944, in dem Schicksalsjahr Ungarns im Zweiten Weltkrieg, übernahmen die faschistischen Pfeilkreuzler die Macht in Ungarn. Hellers Vater wurde deportiert und im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Ihre Mutter und sie entgingen oftmals um Haaresbreite der Ermordung, so auch bei den Massenexekutionen am Donauufer in Budapest. Ans Ufer der Donau habe sie sehr lange nicht mehr gehen können, sagte Agnes Heller später, der Strom und die Todesangst seien für sie miteinander verschmolzen.
Schülerin des marxistischen Philosophen Lukács
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm sie das Studium auf: zunächst Naturwissenschaften - Physik und Chemie - dann, als sie zum ersten Mal den Philosophen Georg Lukács an der Uni Budapest hörte, wechselte sie sofort das Studienfach, promovierte bei ihm und wurde seine Assistentin.
Ihre eindeutige Ablehnung des Totalitarismus brachte sie immer wieder in Gefahr. Sie wurde von der Universität entlassen, verfolgt, blieb trotz alledem in Ungarn bis in die 1970er-Jahre.
Das änderte sich 1977, als sie und ihr Mann die Gelegenheit erhielten, nach Australien zu emigrieren. In Melbourne wurde sie Professorin, wechselte nach New York, erhielt die Hannah-Arendt-Professur an der New Yorker "New School for Social Research". Vorträge, Einladungen, Ehrungen - die Würdigungen ihrer intellektuellen Leistungen rissen nicht ab.
Schärfste Kritikerin Orbáns
Nach der politischen Wende in ihrer Heimat pendelte sie zwischen New York und Budapest. Die politische Entwicklung in Ungarn verfolgte sie stets mit analytischer Schärfe. Als Viktor Orbán 2010 nach achtjähriger Abstinenz von der Regierungsmacht wiedergewählt wurde, war es Agnes Heller, die ihre Stimme erhob. Bei Demonstrationen, in Vorträgen und gegenüber den Medien kritisierte sie ganz offen, wie hier im Interview von 2011, in dem sie hinterfragte: "Orbán ist auch eine Vaterfigur. Das ist wieder einmal ein Mann. Er darf unsere Sorgen auf sich nehmen, für uns entscheiden und statt uns denken. Und er sagt, was wir denken sollen, was wir tun sollen, und dann ist alles in Ordnung."
Agnes Heller starb am Freitagnachmittag im Plattensee-Bad Balatonalmadi im Alter von 90 Jahren.
Ungarische Philosophin Agnes Heller gestorben
Clemens Verenkotte, ARD Wien
20.07.2019 10:00 Uhr
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