EU-Kommissionspräsident spricht von "systemischer Krise" Barroso läutet die Alarmglocken

Stand: 16.11.2011 16:06 Uhr

EU-Kommissionspräsident Barroso sieht eine "systemische Krise" auf die Eurozone zukommen. Nachdem auch die Anleihen stabiler AAA-Staaten wie Österreich und Finnland unter Druck gerieten, ist die Ratlosigkeit groß. Zwar beruhigten sich die Märkte inzwischen etwas, doch Experten sehen nur eine "trügerische Pause".

Die Kurse französischer, österreichischer, niederländischer und finnischer Anleihen ziehen wieder an. Doch von Entspannung kann keine Rede sehen. Nachdem erstmals auch die Papiere starker AAA-Euroländer unter Druck gerieten, sind Politik und Märkte alarmiert - und ratlos.

"Wir haben Rettungsprogramme aufgelegt, Sparpläne ausgehandelt, Regierungen ausgetauscht - aber es hat alles nichts genützt", zitiert die Nachrichtenagentur Reuters einen Analysten. "Wir stehen kurz vor einer Eskalationsstufe, und es gibt nur noch einen Rettungsanker - die EZB." Entweder Europa laufe jetzt direkt in die Katastrophe oder die EZB schalte sich entschieden ein. "Sie könnten den Schweizer Weg nehmen und sagen, Renditen steigen auf höchstens 4,5 Prozent, ansonsten halten wir dagegen."

Für die EZB hieße das letzten Endes nichts anderes als die Notenpresse anzuwerfen. Die Schweizerische Nationalbank hatte in ihrem Kampf gegen die Aufwertung der heimischen Währung Anfang September einen Mindestkurs festgesetzt. Mit unbeschränkten Devisenkäufen verhindert sie seitdem, dass der Euro unter die Marke von 1,20 Franken fällt.

Gefahr einer "systemischen Krise"

Auch in der EU schrillen die Alarmglocken. Obwohl es keine neuen schlechten Nachrichten gibt - im Gegenteil: Sogar die Sorgenstaaten Griechenland und Italien scheinen zumindest die akuten Regierungskrisen überwunden zu haben - kaufen Investoren Staatsanleihen von Euroländern nur noch mit Zinsaufschlägen. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sieht die Eurozone auf eine "systemische Krise" zusteuern. Um diese zu überwinden, müssten sich alle Länder stärker engagieren, sagte Barroso vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.

Dies könne auch bedeuten, dass noch "zusätzliche und wichtigere Maßnahmen" nötig seien, erklärte der Kommissionspräsident - konkreter wurde er nicht. Barroso sprach sich für eine stärkere wirtschaftliche Integration unter den 17 Ländern in der Eurozone aus, ohne dabei allerdings die zehn EU-Länder ohne Euro zu benachteiligen. Neue Maßnahmen zur stärkeren Überwachung der Budgets der Eurozonen-Länder und ihrer haushaltspolitischen Ziele würden schon nächsten Monat in Kraft treten.

Merkel: EZB hat keine zusätzlichen Möglichkeiten

"Natürlich ist die Situation so, dass man sie beobachten muss", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Blick auf die Risikoaufschläge auch für Eurostaaten mit der besten Bonitätsnote. "Ich glaube, dass wir bis jetzt keine ausreichende Antwort auf die Zukunft in der Eurozone gegeben haben." Das Vertrauen, dass die Probleme durch Selbstverpflichtungen der Länder gelöst werden könnten, sei nicht mehr ausreichend. "Deshalb plädieren wir für sehr schnelle politische Beschlüsse für mehr Europa, für mehr Durchgriffsrechte." Dazu sei eine begrenzte EU-Vertragsänderung nötig. Auch Deutschland sei zu einer Übertragung von Souveränität auf die europäische Ebene bereit.

Zugleich wies sie erneut Forderungen zurück, die Europäische Zentralbank verstärkt zur Stabilisierung der Eurozone einzusetzen und ihr etwa den Ankauf von Staatsanleihen in großem Maßstab zu erlauben. "Wir sehen die Verträge so, dass die EZB nicht die Möglichkeit hat, hier die Probleme zu lösen", betonte Merkel nach einem Treffen mit dem irischen Ministerpräsidenten Enda Kenny in Berlin.

"Die verstehen nicht, dass wir auf gutem Wege sind"

Die Wogen am Anleihemarkt hatten sich am Morgen nach dem jüngsten Ausverkauf von Papieren starker Euroländer zwar etwas geglättet. Die Kurse französischer, österreichischer, niederländischer und finnischer Anleihen zogen wieder an - im Gegenzug sanken also die Renditen. Die Zinsen für zehnjährige Schuldtitel aus Rom fielen zurück unter die Sieben-Prozent-Marke, bei der die anderen Krisenländer um Hilfe bitten mussten. Entspannung war auch bei spanischen und portugiesischen Anleihen zu beobachten: Kreditausfallversicherungen für diese Länder verbilligten sich.

Doch die gestrige Entwicklung "war ein ordentlicher Schock, und jetzt geht es erst einmal ans Aufarbeiten", sagte ein Händler. Vor allem asiatische Verkäufer seien unterwegs gewesen. "Wir haben ein heftiges Kommunikationsproblem, denn offensichtlich verstehen die asiatischen Investoren nicht, dass wir hier auf einem guten Weg sind; dass wir sparen und nicht einfach Geld drucken wie die Amerikaner." Der Händler ging davon aus, dass die aus Europa abgezogenen Gelder vor allem in Dollar-Anlagen umgeschichtet wurden. "Nur der US-Markt ist groß und liquide genug." Der Finanzvorstand der Versicherungsgruppe Allianz, Oliver Bäte, vermutet hinter dem Druck auf Staatsanleihen koordinierte Aktionen einzelner Investoren.

Der Sprecher von EU-Wirtschaftskommissar Olli Rehn zeigte sich gestern bereits hilflos: Die Kommission kommentiere kurzfristige Marktentwicklungen prinzipiell nicht, sagte Amadeu Altafaj. Und eine Ansteckungsgefahr innerhalb der Eurozone sei "keine Gefahr mehr, sondern längst eine Realität". Und da gebe es leider nichts, was die Situation verändert habe.

A. Meyer-Feist, ARD Wien, 16.11.2011 14:08 Uhr