EU-Verfassung in der Kritik Wie neoliberal ist Europa?

Stand: 25.08.2007 15:52 Uhr

Europa ist in Verruf geraten. Die Angst vieler Bürger vor zunehmendem Wettbewerb, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor Lohn-, Sozial- und Steuerdumping nährt die Kritik an der EU. Die Warnung von Verfassungsgegnern vor einem "neoliberalen Europa" hat bei vielen die Zweifel an der EU wachsen lassen. Aber wie "neoliberal" ist die Verfassung wirklich?

Von Britta Scholtys, tagesschau.de

Von Anfang an verfolgte das "Projekt Europa" wirtschaftliche Ziele: Handelshemmnisse sollten beseitigt, ein gemeinsamer Binnenmarkt geschaffen werden. Die Grundausrichtung dabei war marktwirtschaftlich. Im Kern gilt das seit den Römischen Verträgen von 1957 bis heute. Doch der freie Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen macht immer mehr Menschen Angst. Warum?

Die Angst nährt die Zweifel

Ein Grund ist das Bangen um den Job durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Osteuropa und den wachsenden Wettbewerb durch mobile Erwerbstätige. Die sozialen und ökonomischen Unterschiede innerhalb der EU – zum Beispiel beim Wirtschaftswachstum, den Arbeitslosenzahlen oder dem durchschnittlichen Jahreseinkommen - nähren diese Angst. So verdienten beispielsweise die Dänen laut Europäischem Statistikamt Eurostat im Jahr 2002 im Durchschnitt 41.700 Euro, die Deutschen 34.600, die Slowaken aber nur 5700 Euro. Die Arbeitslosenquote lag in Deutschland danach im April dieses Jahres bei 10 Prozent, in der Slowakei bei 15, 6 Prozent, in Irland bei nur 4,2 Prozent.

Ein anderer Grund ist die Angst vor Lohn- und Sozialdumping, zum Beispiel durch die geplante EU-Dienstleistungsrichtlinie. Diese greift mit dem so genannten Herkunftslandprinzip in der Tat die Sozialsysteme der EU-Länder radikal an. Denn danach würden Dienstleistungsunternehmen in Europa künftig nur noch den Anforderungen ihres Herkunftslandes unterliegen. Kontrollen des Landes, in dem die Arbeit ausgeübt wird, würden untersagt. Örtliche Tarifverträge sowie Standards beim Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz müssten nicht eingehalten werden. Die Richtlinie, die im übrigen unabhängig von der EU-Verfassung verhandelt wird, wurde vorerst gestoppt. Die Befürchtungen vieler Bürger vor Sozialdumping aber bleiben.

Vor dem Hintergrund der weltweiten Liberalisierung, Deregulierung und Globalisierung der Märkte sowie dem Abwärtstrend von Löhnen und Sozialstandards sind die Ängste verständlich. Nur: Ist es tatsächlich die EU-Verfassung, die den Sozialabbau und die neoliberale Öffnung fördert? Ja, sagen linke Ökonomen und Globalisierungsgegner. Nein, sagen Liberale, Konservatie und auch die meisten Sozialdemokraten.

"Freier Wettbewerb" und "Sozialschutz"

Die Verfassung will die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union stärken, indem die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik koordinieren. Dazu erlässt der Ministerrat Maßnahmen und beschließt die Grundzüge dieser Politik. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Wirtschaftspolitik so ausrichten, dass sie "im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ steht: "Wettbewerbsverzerrungen sind zu vermeiden".

Diese Leitlinien scheinen in der Tat für eine neoliberale Ausrichtung des EU-Regelwerks zu sprechen. In der Verfassung steht aber auch, dass die Union Initiativen ergreifen kann, um die Beschäftigungs- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten zu koordinieren. Dazu gehören die "Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, Gewährleistung eines angemessenen Sozialschutzes, Bekämpfung sozialer Ausgrenzung, Verwirklichung eines hohen Niveaus in der allgemeinen und beruflichen Bildung und beim Schutz der Gesundheit des Menschen".

Welches Ziel aber hat Priorität? Der freie Wettbewerb oder der Sozialschutz? Für die Gegner steht fest: der freie Wettbewerb. Denn – so ihr Argument - die Verfassung verpflichte die Mitgliedsländer auf den Grundsatz des "offenen Marktes mit freiem Wettbewerb". Die Sozial- und Beschäftigungspolitik aber werde durch die Union nur koordiniert und bleibe Angelegenheit der Nationalstaaten. Damit gewährleiste die Union keinen länderübergreifenden Schutz der Arbeitskraft und Sozialpolitik. Die sozialen Ansätze des EU-Vertrages seien nicht verpflichtend und könnten ausgehebelt werden.

Vollbeschäftigung und soziale Gerechtigkeit

Dieser Deutung widersprechen Befürworter der Verfassung und verweisen auf die ausdrückliche Festschreibung der "sozialen Marktwirtschaft" als Grundorientierung der EU. Die EU-Verfassung bekennt sich zur Vollbeschäftigung, zur sozialen Gerechtigkeit und zu einem hohen Niveau an sozialem Schutz. Der soziale Schutz ist im Grundlagenteil der Verfassung festgeschrieben. Er durchziehe "die gesamte Politik der EU", sagt Klaus Hänsch, Europaabgeordneter der Sozialdemokraten und Mitglied des EU-Konvents. Wer diese Festschreibung nicht sehe, der habe entweder das EU-Regelwerk nicht verstanden oder wolle die Bürger in die Irre führen, meint Hänsch im Gespräch mit tagesschau.de.

Die EU bekennt sich also im Verfassungsentwurf ausdrücklich zur sozialen Marktwirtschaft und verpflichtet zugleich die Mitgliedsländer auf den freien Wettbewerb.

Angesichts dieses Dilemmas sind die Forderungen linker Kritiker durchaus nicht unberechtigt. Die Einführung von EU-weit verbindlichen Mindestlöhnen könnte ein befürchtetes Lohndumping von vornherein ausschließen. Und auch die Verpflichtung zur Angleichung von sozialen Mindeststandards "nach oben" könnte dem Abwärtstrend der sozialen Sicherung in den einzelnen Nationalststaaten einen Riegel vorschieben. Das Problem aber ist: Die Nationalstaaten wollen sich dazu nicht verpflichten.

Widerstand der Nationalstaaten

"Die Regierungen haben die Ausdehnung des Kompetenzbereichs der EU auf den Kernbereich sozialer Sicherung nicht gewollt", sagt Hänsch. So fürchten die marktfreundlichen Briten durch einheitliche Sozialstandards den Druck "nach oben". Die nordischen Länder wiederum wollen ihr hohes Schutzniveau durch Brüssel nicht nach unten drücken lassen.

Wenn man EU-weit die Sozialpolitik harmonisieren und der Union mehr Zuständigkeit in der Beschäftigungspolitik übertragen wollte, dann müssten die Nationalstaaten weitaus mehr Finanzmittel zur Verfügung stellen. Dazu aber sei kein Mitgliedstaat bereit, so Hänsch. Deshalb könne die EU eben nur die "Anstrengung der Mitgliedstaaten orientieren und koordinieren" - nach den Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft und mit dem Ziel der Vollbeschäftigung und sozialen Gerechtigkeit.

Der Vorwurf linker Ökonomen, Globalisierungsgegner und mancher Gewerkschafter, die EU-Verfassung schreibe eine neoliberale Wirtschaftspolitik uneingeschränkt fest, ist so nicht gültig. Denn das Regelwerk, das den Rahmen für die Politik stellt, bietet Ansatz für beide marktwirtschaftliche Richtungen: die liberale – ob alt oder neo – und die soziale. Wie die Ausgestaltung aussieht, hängt von den nationalen Regierungen der Mitgliedsländer ab – und damit von dem politischen Kräfteverhältnis in Europa.

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