Interview

Interview mit EZB-Volkswirt Stark "Das Euro-Gebiet ist im Epizentrum der Krise"

Stand: 13.05.2010 04:42 Uhr

Die Europäische Zentralbank kauft erstmals in ihrer Geschichte Staatsanleihen verschuldeter Euro-Staaten. Der Beschluss hat Inflationsängste geschürt, von einem Sündenfall ist die Rede. Im Interview mit ARD-Korrespondent Michael Immel erklärt EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark, warum dieser Schritt dennoch nötig war.

Michael Immel: Die EZB kauft nun europäische Staatsanleihen. Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Einige sprechen von einem Sündenfall. Wie steht es um die Glaubwürdigkeit der EZB?

Jürgen Stark: Was vergangenen Sonntag entschieden wurde, ist eine temporäre Notfallmaßnahme - vor dem Hintergrund von Panikreaktionen an den Märkten, die zu Verwerfungen geführt haben. Es ist kritisiert worden, dies sei auf politischen Druck geschehen, dies sei ein Sündenfall, ein Tabubruch. Aber: Es hat keinen politischen Druck gegeben. Das ist eine Entscheidung, die vor dem Hintergrund der Marktentwicklung getroffen worden ist.

Die Glaubwürdigkeit der EZB hängt nicht allein an der Frage, ob man Staatspapiere kauft oder nicht, sondern ob wir unsere zentrale Aufgabe, nämlich Preisstabilität zu gewährleisten, erfüllen. Das ist die Glaubwürdigkeit, um die es geht.

Immel: Der EZB-Rat tagte vergangene Woche in Lissabon. Im Anschluss hieß es von Zentralbankchef Jean-Claude Trichet, es sei nicht über den Ankauf von Staatsanleihen diskutiert worden. Dann kam es plötzlich aber ganz anders. Ist dabei nicht doch Vertrauen auf der Strecke geblieben?

Stark: Wir sind als Euro-Gebiet im Epizentrum einer globalen Krise. Und es hängt nicht mit der EZB-Ratssitzung in Lissabon zusammen, sondern mit einer Marktentwicklung. Es gab Donnerstagnachmittag und Freitag Panik an den Märkten. Wir mussten uns wirklich ernsthaft überlegen, unter welchen Bedingungen die Märkte am Montag öffnen.

Immel: Es gibt den Vorwurf, dass die EZB nun die Gelddruckmaschinen anwirft. Müssen sich die Bürger auf eine steigende Inflation einstellen?

Stark: Es hat kritische Stimmen gegeben. Es gibt sicherlich auch ein Risiko, das auch Bundesbankpräsident Axel Weber zum Ausdruck gebracht hat. Auch ich teile die Einschätzung, dass es ein solches Risiko geben könnte. Aber wir haben beschlossen, dass wir die zusätzliche Liquidität, die wir in den Markt geben, wieder zurücknehmen: Das ist der entscheidende Punkt: Es dürfen sich daraus keine Inflationsrisiken ergeben.

Der Euro steigt - und fällt wieder

Immel: Schauen wir auf den Euro und die Stärke der Gemeinschaftswährung. Die Ausschläge sind enorm. Am Montag klettert der Euro auf 1,31 Dollar, am Mittwoch liegt er erneut knapp unter 1,27 Dollar. Was bedeuten diese Ausschläge?

Stark: Die Ausschläge zeigen die Unsicherheit an den Finanzmärkten. Nicht nur in Europa, sondern weltweit. Denn der Wechselkurs ist ein relativer Preis, der nicht nur die Entwicklung der ökonomischen Daten im Euro-Gebiet reflektiert, sondern auch in anderen Regionen. Angesichts der Krise in der wir nach wie vor sind, sind diese Ausschläge durchaus zu erwarten.

Immel: In welcher Phase sind wir jetzt angekommen? Immer wieder ist von bösen Spekulanten die Rede. Wie sieht die EZB die Lage?

Stark: Es gibt sicherlich eine Attacke auf einzelne Länder des Euro-Gebietes. Aber Attacken auf einzelne Länder sind mit Verwundbarkeit dieser Länder begründet. Wenn Investoren feststellen, dass ihre Investitionen oder die Anleihen, die sie gekauft haben, nicht mehr so sicher sind wie zum Zeitpunkt des Kaufs, dann überlegen sie, ob sie ihre Investitionsstrategie ändern. Und dann ziehen sie sich aus diesen Märkten zurück. Das ist eine Entwicklung, die wir in den vergangenen Wochen und Monaten erlebt haben.

Immel: Sie sprechen von Attacken. Wer steckt dahinter?

Stark: Das sind die anonymen Marktkräfte, die normalerweise zu einem Ausgleich am Markt führen. Die aber auch zum Überschießen und Unterschießen führen.

Zur Person

Jürgen Stark, Jahrgang 1948, ist seit 2006 Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank und Mitglied des EZB-Direktoriums. Zuvor war er Vizepräsident der Deutschen Bundesbank und Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Tübingen.

Euro in Estland, Bedenken bei der EZB

Immel: Nun wächst der Euro-Raum weiter. In Estland wird bald schon auch mit Euro bezahlt. Wie bewerten Sie dieses Signal?

Stark: Wir haben zum Fall Estland unsere Bedenken geäußert. Bedenken, dass Estland zwar rein numerisch alle Konvergenzkriterien erfüllt. Aber wie nachhaltig ist das? Kann auch in der Zukunft mit einem hohen Grad an Konvergenz gerechnet werden? Hier haben wir unsere Bedenken geäußert. In Estland könnte zum Beispiel die Inflationsrate wieder deutlich steigen. Daher diese Bedenken.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen - das Euro-Gebiet befindet sich in der schwersten Krise seit der Schaffung des Euro - muss die Politik sehr gut abwägen, inwieweit sie eine Erweiterung ermöglicht und befürwortet. Aber dies ist eine politische Entscheidung, die die Europäische Zentralbank nicht zu bewerten hat. Nur sollte man auch hier die historischen Erfahrungen nutzen. Und mit jedem Schritt, mit dem das Euro-Gebiet vergrößert wird, sind natürlich auch Risiken verbunden.

Das Interview führte Michael Immel, HR