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Integrationspflicht für Flüchtlinge "Ich sehe keinen Handlungsbedarf"

Stand: 30.03.2016 14:38 Uhr

Innenminister de Maizière will Sanktionen für Flüchtlinge, die nicht an Integrationsangeboten teilnehmen. Arbeitsmarktexperte Herbert Brücker hält das für völlig überflüssig. Verweigerer gebe es kaum, dafür mangele es an Kursen, sagt er im Gespräch mit tagesschau.de.

Innenminister de Maizière will Sanktionen für Flüchtlinge, die nicht an Integrationsangeboten teilnehmen. Arbeitsmarktexperte Herbert Brücker hält das für völlig überflüssig. Verweigerer gebe es kaum, dafür mangele es an Kursen, sagt er im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Bundesinnenminister Thomas de Maizière kündigte in einem ARD-Interview an, Sanktionen für Flüchtlinge einzuführen, die nicht an verpflichtenden Integrationskursen teilnehmen oder Arbeitsangebote ausschlagen. Gibt es bereits Erkenntnisse darüber, wie viele Flüchtlinge zu den "Integrationsverweigerern" zählen?

Herbert Brücker: Nein, dazu gibt es noch nichts. Ich vermute allerdings, dass es sich dabei um eine ganz marginale Gruppe handeln dürfte. Eine qualitative Befragung von etwa 100 Flüchtlingen hat ergeben, dass die Motivation an Sprach- und Integrationskursen teilzunehmen extrem hoch ist. In aller Regel wird beklagt, dass es keine Plätze für Sprachunterricht gibt. Der Grund dafür ist, dass wir in Deutschland erst seit November Kurse anbieten - und dies bislang auch nur für anerkannte Flüchtlinge und solche mit einer aussichtsreichen Bleibeperspektive. Die meisten Menschen hängen noch in den Erstaufnahmeeinrichtungen herum und würden gern die Sprache lernen, können es aber nicht.

Zur Person

Professor Dr. Herbert Brücker leitet den Bereich "Internationale Vergleiche und Europäische Integration" im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Seit 2008 ist er außerdem Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Migration, Europäische Integration und Arbeitsmarktpolitik.

tagesschau.de: Die Bundesregierung will in ihrem geplanten Integrationsgesetz auf das bekannte Prinzip "fördern und fordern" setzen, um die Integration anerkannter Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Ein sinnvoller Ansatz?

Brücker: Grundsätzlich ist das richtig, ich würde den Schwerpunkt zunächst jedoch auf das Fördern legen. Wir müssen den Menschen Angebote machen, die weit über flächendeckende Integrationskurse hinausgehen. Wir brauchen Maßnahmen, die Flüchtlinge schrittweise in den Arbeitsmarkt hineinführen. Nur so kann Integration gelingen. Was das Fordern angeht, sehe ich aktuell keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Es gibt bereits Sanktionen, wenn jemand nicht an Integrationskursen teilnimmt oder dort unentschuldigt fehlt. In diesen Fällen können jetzt schon Leistungen gestrichen werden. Das ist vergleichbar mit den Sanktionen, die für Hartz-IV-Empfänger vorgesehen sind. Auch das Aufenthaltsgesetz sieht in schweren Fällen Sanktionen vor. Das ist völlig ausreichend.

"Kurse für bis zu 600.000 Personen"

tagesschau.de: Im Januar teilte die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit, dass sich mehr als 220.000 Flüchtlinge für einen Kurs anmeldeten, der erste Kenntnisse in der deutschen Sprache vermitteln sollte. Die BA hatte mit weniger als der Hälfte gerechnet. Wie hoch schätzen Sie den Bedarf für solche Kurse ein?

Brücker: Im vergangenen Jahr sind 1,1 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen. Wir gehen davon aus, dass rund 800.000 noch da sind – und eigentlich muss jeder dieser Menschen auf die eine oder andere Weise Deutsch lernen. Wir brauchen da ganz unterschiedliche Angebote. Kinder im Vorschulalter brauchen natürlich keinen klassischen Sprachkurs. Da genügt ein Kita-Platz. Schüler hingegen brauchen Plätze in Willkommensklassen. Etwa 70 Prozent der Flüchtlinge sind 16 Jahre und älter. Für diese Menschen müssen Integrationskurse und berufsqualifizierende Maßnahmen angeboten werden. Wir reden da über eine Größenordnung zwischen 500.000 und 600.000 Personen. Zumindest wenn wir alle Flüchtlinge unabhängig von ihrer Bleibeperspektive erreichen wollen.‎

Integrationskurse

Integrationskurse sollen Ausländern die Ankunft in der deutschen Gesellschaft erleichtern. Sie bestehen in der Regel aus 600 Stunden Sprachunterricht und Informationen über die deutsche Geschichte, Rechtsordnung und Kultur. Die Kurse wurden 2005 im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes eingeführt.
Ausländer, die ab dem 1. Januar 2005 ihren ersten Aufenthaltstitel in Deutschland erhalten haben, haben einen gesetzlichen Anspruch auf Teilnahme an einem Integrationskurs. Neuzuwanderer sind in der Regel zur Teilnahme verpflichtet, wenn ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um sich zu verständigen. Auch Neuzuwanderer, die Arbeitslosengeld II beziehen, können zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet werden.

tagesschau.de: Welche Schwierigkeiten gibt es bei der Einrichtung dieser Kurse?

Brücker: Es ist nicht trivial, qualitativ gute Träger und ausreichend Sprachlehrer zu finden, die Deutsch für Ausländer unterrichten können. Die Sprachlehrer bekommen derzeit rund 3,50 Euro pro Stunde für jeden Kursteilnehmer. Damit schafft man keine Anreize für einen hochwertigen Unterricht. Und man kann niemandem vorwerfen, dass er durch einen Integrationskurs fällt, wenn das Angebot schlecht war.

Es fehlt insgesamt noch an der passenden Infrastruktur. Wir haben uns diesem Thema viel zu spät angenommen. Nochmal: Für bestimmte Gruppen werden die Kurse erst seit November 2015 angeboten. Da kann man nicht einfach über Nacht den Schalter umlegen und schnell Kurse in der notwendigen Größenordnung bereitstellen.

"Entscheidend ist der Schutzstatus"

tagesschau.de: Im vergangenen Jahr stellten mehr als 475.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland. Welche Maßnahmen sind nötig, um diese Menschen in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren?

Brücker: Die Asylverfahren müssen beschleunigt werden, denn eine realistische Chance in den deutschen Arbeitsmarkt integriert zu werden, hat nur jemand, der einen anerkannten Schutzstatus hat. Sonst haben die Unternehmen kein Interesse, jemanden einzustellen und auch die Motivation der Flüchtlinge steigt durch diese Unsicherheit nicht gerade.

Wir müssen außerdem große Gruppen in das Bildungssystem integrieren. Viele Flüchtlinge haben weiterführende Schulen besucht, aber ihre Ausbildung nicht abgeschlossen oder auf der Flucht ihre Zertifikate verloren. Da müssen wir schauen, was diese Menschen können und sie durch eine gute Arbeitsvermittlung an die richtigen Jobs heranführen. Und das wichtigste ist natürlich, die Sprache zu lernen.

tagesschau.de: Wie lange wird es dauern, bis ein großer Teil der Flüchtlinge selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen kann?

Brücker: Das ist ein langfristiger Prozess. Rechtlich haben Flüchtlinge in dem Moment einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, in dem ihr Schutzstatus anerkannt wird. Zusätzlich haben sie drei Monate nachdem sie ihren Asylantrag gestellt haben einen sogenannten nachrangigen Arbeitsmarktzugang. Das heißt: Sie können eine Arbeitsgenehmigung erhalten, wenn für eine Stelle kein Deutscher oder anderer EU-Bürger in Frage kommt. Das ist ein erstes Hindernis.

Auch danach ist es ein langwieriger Prozess, Flüchtlinge voll in den Arbeitsmarkt zu integrieren. In der Vergangenheit dauerte es etwa fünf Jahre, bis die Hälfte der Flüchtlinge beschaeftigt war. Nach zehn Jahren stieg dieser Anteil auf 60 Prozent, nach 15 Jahren auf 70 Prozent. Das ist dann die Größenordnung, die wir auch in der deutschen Bevölkerung haben.

tagesschau.de: Die Arbeitsagenturen erwarten auch wegen der Flüchtlinge mittelfristig einen Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Worauf müssen wir uns einstellen?

Brücker: Die Arbeitslosigkeit unter den Flüchtlingen wird zunächst steigen, weil in der Regel erst anerkannte Flüchtlinge als arbeitslos registriert werden können. In welcher Größenordnung können wir noch nicht genau sagen. Ich schätze, im Jahresmittel wird es um etwa 90.000 Personen gehen. Das heißt aber nicht, dass die Arbeitslosigkeit insgesamt steigen wird. In anderen Segmenten entwickelt sich der Arbeitsmarkt derzeit sehr dynamisch. Es kann gut sein, dass die Arbeitslosenquote auf dem gleichen Niveau wie bisher verharrt oder sogar leicht sinkt. Man muss auch sehen: Wir geben im Moment viel Geld für Flüchtlinge aus. Ein Teil dieser Ausgaben kommt natürlich auch den deutschen Arbeitnehmern zu Gute, die in der Flüchtlingsinfrastruktur neue Jobs finden. 

Das Interview führte Julian Heißler, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 30. März 2016 um 15:00 Uhr.