Interview

Folgen der Krise in Griechenland "Der Grieche leidet eher im Stillen"

Stand: 06.11.2012 21:06 Uhr

Der griechische Journalist Ioannis Papadimitriou lebt in Athen. Im Gespräch mit tagessschau.de berichtet er, wie sich der Alltag durch die Krise verändert: Cafes sind verwaist, es wird mehr gebettelt, viele frustriert die Arbeitssuche. Hilfe von der Familie werde immer wichtiger, da vom Staat nichts mehr zu erwarten sei..

tagesschau.de: Herr Papadimitriou, Sie leben in Athen. Wenn Sie durch die Stadt gehen, woran merken Sie zuerst, dass sich das Leben der Menschen in Griechenland durch die Krise verändert hat?

Ioannis Papadimitriou: Man sieht viele Einkaufsläden, die dicht gemacht haben - selbst in den besten Lagen von Athen. Es sind weniger Leute unterwegs. Wenn man abends in ein Cafe geht, ist nicht viel los. Auf der Straße sieht man weniger Autos, vor allem weniger neue. Das Durchschnittsalter der Karossen liegt bei 14 Jahren, das ist doppelt so alt wie in Westeuropa. Das sind schon Bilder, die man vor fünf oder zehn Jahren hier nicht sehen konnte. Auch dass Menschen auf offener Straße um ein bisschen Unterstützung betteln, gab es in dem Maße nicht.

Zur Person

Ioannis Papadimitriou ist freier Journalist und lebt in seiner Geburtsstadt Athen. Er hat 15 Jahre in Deutschland gelebt, studierte Jura in Bonn und ist für verschiedene Medien tätig - unter anderem als Athener Korrespondent für die "Deutsche Welle" und für die Berliner "Tageszeitung".

tagesschau.de: Herrscht denn Angst vor Ausschreitungen?

Papadimitriou: Ich denke, der Grieche leidet eher im Stillen. Er zögert, seinen Schmerz und seine Probleme herauszuschreien – sieht man mal von den Leuten ab, die auf die Straße gehen und wirklich verzweifelt sind. Das sind meiner Auffassung nach allerdings gar nicht so viele.  Man muss hier die Relation sehen. Es gab Ausschreitungen und die wird es wohl auch wieder geben. Aber was würde in Deutschland passieren, wenn acht oder zehn Millionen Menschen arbeitslos wären?

tagesschau.de: Können die Menschen im Land realistischer Weise noch einen Job finden?

Papadimitriou: Das ist schwer. Viele Menschen sind doppelt frustriert. Zum einen gibt es wegen der Krise nur wenig Angebote, zum anderen ist es traditionell so, dass Jobs hier nicht nach Qualifikation, sondern aufgrund von persönlichen Beziehungen vergeben werden. Außerdem darf man sich das in Griechenland nicht so vorstellen, dass man einen Arbeitsvertrag abschließt und dann für die nächsten Jahre Arbeit hat. Man kriegt zunächst einen Job für ein paar Wochen zur Probe etwa als Kellner in einer Cafeteria - eine beliebte Arbeit, wenn man sonst nichts findet. Dann wird das Arbeitsverhältnis vielleicht für eine paar Monate verlängert oder eben nicht.

tagesschau.de: Was macht jemand, der erfährt, dass er definitiv arbeitslos wird?

Papadimitriou: Als allererstes muss man sich um eine gütliche Trennung mit dem Arbeitgeber bemühen, um seine Abfindung zu bekommen. Das ist nicht immer selbstverständlich, und gerichtlich in so einem Fall vorzugehen, dauert in Griechenland leider oft mehrere Jahre. Der zweite Schritt ist: Man geht zum Arbeitsamt. Dort gibt es allerdings nur für sechs Monate oder höchstens ein Jahr eine gewisse Hilfe, die von der Höhe des letzten Gehalts abhängt. Das können 400 Euro bis maximal 1000 Euro sein. Zum Vergleich: Im Zentrum Athens, wo die Wohnqualität jedoch nicht die beste ist, findet man vielleicht eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung für 300, 400 Euro. Eine Form der Sozialhilfe wie etwa Hartz IV in Deutschland, die durchgängig ausbezahlt wird, gibt es hier nicht. Man muss dann sehen, wo man bleibt.

tagesschau.de: Und wie macht man das?

Papadimitriou: Druck machen. Immer wieder fragen, ob jemand von einem Job gehört hat. Oft gibt es den einen oder anderen Verwandten oder Freund, der einen kleinen Betrieb oder ein Hotel hat, wo man vorübergehend beschäftigt sein darf. Man kann aus der Not heraus selber Kleinunternehmer werden, man kann schwarz arbeiten für eine Weile. Aber dann werden natürlich keine Sozialabgaben entrichtet. In Griechenland gibt es viele Menschen, die sich als Kleinunternehmer verdingen. Und wenn auch das nicht klappt, muss man überlegen, aufs Land zu ziehen, dort mit bescheidenen Mitteln ein eigenes Stück Land beackern, sofern eines vorhanden ist,  oder man muss ins Ausland gehen.

tagesschau.de: Verlieren bereits viele ihre Wohnungen?

Papadimitriou: Solche Fälle gibt es schon, aber das soziale Netz ist immer noch dicht - nicht das staatliche, das ist ja quasi nicht mehr vorhanden. Man hilft sich im Familien- und Bekanntenkreis. Man bekommt Tipps, wo man billig wohnen kann. Man teilt sich eine Wohnung, jüngere Menschen ziehen zurück zu ihren Eltern. Studenten gehen nicht mehr zum Studium in andere Städte, sondern bleiben zuhause, damit sie bei den Eltern wohnen können.

tagesschau.de: Gibt es Sorgen vor dem Platzen einer Immobilienblase?

Papadimitriou: Vielen Menschen wurde in den vergangen Jahren fast ein Hauskredit "aufgezwungen". Die Zahlungsbedingungen sahen derart günstig aus und die Banken haben viel Werbung betrieben. Ähnlich wie in Spanien und den USA. Die griechische Blase scheint aber noch zu halten. Das hat damit zu tun, dass ein Haus oder eine Wohnung für Griechen traditionell die Investition ihres Lebens ist. Alternative Investmentprodukte sind weniger populär als in anderen Ländern. Jetzt versuchen die Menschen mit den Banken zu verhandeln, um die Schulden zeitlich zu strecken. Viele haben damit Erfolg. Aber das bedeutet auch, sie sind länger an die Banken gebunden. Mittlerweile sind zehntausende Häuser im Besitz der Banken. Da es kaum Nachfrage gibt, wissen sie selber nicht, was sie damit machen sollen.

tagesschau.de: Wie sieht es eigentlich auf dem Land aus – ähnlich wie in der Stadt?

Papadimitriou: Ich glaube, dass die Krise auf dem Land oder auf den Inseln noch nicht so richtig angekommen ist. Jedenfalls hat man das Gefühl, dass das Leben dort seinen Lauf nimmt. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die Menschen dort schon vor der Krise eher auf sich alleine gestellt waren. Die hatten ihr eigenes Haus, ihre Felder, ihr Hotel. Sie sind nicht so stark auf den wirtschaftlichen Austausch angewiesen wie in Athen oder Saloniki. Möglicherweise sind die Leute auch eher daran gewöhnt,  bescheiden zu leben. Das war vor der Krise der Fall und das ist vermutlich heute noch so. 

tagesschau.de: Nicht jeder ist arbeitslos, die aktuelle Quote im Juli lag bei 23,1 Prozent. Wie geht es denen, die noch einen Job haben?

Papadimitriou: Schon früher war das Leben der meisten nicht üppig ausgestattet. Ausländische Schlagzeilen von Topverdienern mit 4000 oder 5000 Euro im Monat sind mir ein Rätsel. Ich kenne solche Leute nicht. Es mag sie geben, aber dann haben sie Jobs, die über politische Seilschaften vergeben wurden. Das ist die absolute Ausnahme. Die meisten müssen mit kleinem Salär auskommen, und das wird jetzt noch mal reduziert. Die Einbußen betragen zum Teil 30 bis 40 Prozent. Zudem hat bestimmt jede Familie mindestens einen Arbeitslosen, der von dem Geld mitversorgt wird. Freizeit und Unterhaltung fallen oftmals weg. An neuer Kleidung wird gespart. Im letzten Sommer haben 60 Prozent der Griechen keinen Urlaub gemacht - es sei denn, sie konnten zu Bekannten fahren, die ein Ferienhaus am Meer haben.

tagesschau.de: Gibt es Leute, die nicht von der Krise betroffen sind? Die weiter so leben können wie bisher?

Papadimitriou: Dass irgendjemand, der in Griechenland lebt, hier sein Geld verdient, hier besteuert wird, sagt, mich geht die Krise nichts an – nein!  Selbst die Wohlhabenden sind oder waren auch deshalb wohlhabend, weil jemand bei ihnen eingekauft hat. Wenn die Binnennachfrage sinkt, sinkt auch deren Einkommen. Außen vor sind höchstens Griechen, die nicht auf den heimischen Markt angewiesen sind und ihre Geschäfte im Ausland tätigen.

tagesschau.de: Und Sie selbst? Wie geht es Ihnen?

Papadimitriou: Einerseits ist es journalistisch sehr interessant, die Entwicklungen mitzuerleben und darüber zu berichten. Insofern profitiere ich. Andererseits muss ich miterleben, dass in meinem privaten Umfeld viele von der Krise betroffen sind. Das stimmt mich natürlich traurig.

Das Interview führte Thorsten Gerald Schneiders, tagesschau.de