Das russische Finanzministerium in Moskau.
Analyse

Russische Anleihen Ein untypischer Zahlungsausfall

Stand: 27.06.2022 17:10 Uhr

Nach der Logik der Finanzmärkte erlebt Russland gerade einen Zahlungsausfall. Der Kreml bestreitet das. Tatsächlich spielt die Blockade des Westens eine entscheidende Rolle.

Eine Analyse von Detlev Landmesser, tagesschau.de

Russland steht vor dem ersten Zahlungsausfall auf Auslandsschulden seit mehr als 100 Jahren. In der vergangenen Nacht lief eine 30-Tage-Frist aus, innerhalb der fällige Zinsen auf zwei Staatsanleihen in Dollar und Euro zu zahlen waren. Es geht um insgesamt rund 100 Millionen Dollar. Gestern Abend beklagten mehrere taiwanische Investoren, bislang keine der vereinbarten Zinszahlungen erhalten zu haben. Das wäre der erste Zahlungsausfall auf russische Auslandsschulden seit 1918.

Ausfall im technischen Sinne

Dass dies kein gewöhnlicher Zahlungsausfall ist, belegt schon die Versicherung des russischen Finanzministeriums, man habe die betreffende Rate bereits am 20. Mai überwiesen, fünf Tage bevor das von den USA erlassene Transaktionsverbot für russische Zahlungen in Kraft trat. Finanzminister Anton Siluanow nannte den drohenden Zahlungsausfall daher eine "Farce".

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow fügte heute hinzu, die Zahlungen seien "in ausländischer Währung" erfolgt. Behauptungen einer Zahlungsunfähigkeit seien "ungerechtfertigt". Wenn Transaktionen vom Clearinghaus Euroclear wegen der westlichen Sanktionen gegen Russland blockiert worden seien, sei das "nicht unser Problem".

Abgesehen von der kleinen juristischen Unschärfe, ob die Zahlungsfrist möglicherweise erst am heutigen Abend abläuft, gehen Experten aber davon aus, dass der Zahlungsausfall gerade eintritt - sozusagen im technischen Sinne.

Keine hohe Schuldenquote

Mit historischen Staatspleiten, wie etwa dem russischen Staatsbankrott im Jahr 1998, bei dem von Inländern gehaltene Anleihen nicht mehr zurückgezahlt wurden, ist die gegenwärtige Lage indes nicht zu vergleichen. Russland ist nicht "zahlungsunfähig" im eigentlichen Sinne. Es verfügt über erhebliche finanzielle Mittel im In- und Ausland. Die gesamten - teils blockierten - Devisenreserven durch die russische Zentralbank werden aktuell mit knapp 600 Milliarden Dollar angegeben. Außerdem ist das Land im internationalen Vergleich nicht hoch verschuldet: Mit etwa 20 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt die Schuldenquote deutlich niedriger als in vielen westlichen Industrieländern.

Selbst der Begriff "Zahlungsausfall" ist strittig, wenn auch Russland mit seiner Position weitgehend isoliert ist. In der vergangenen Woche hatte Russlands Finanzminister Anton Siluanow erklärt, dass jeder, der die Vorgänge verstehe, wisse, dass es sich nicht um einen Zahlungsausfall handele.

Die Experten der großen Rating-Agenturen Standard & Poor's, Moody's und Fitch schweigen noch dazu - die Sanktionen der Europäischen Union verbieten ihnen in diesem Fall eine Bewertung der Finanzlage. Daneben gibt es das internationale Investoren-Komitee CDDC, das aus großen Banken besteht. Es entscheidet bei Zahlungsproblemen, ob Kreditausfallversicherungen (CDS) fällig werden und die Käufer solcher Absicherungen entschädigt werden. Ein solcher Fall käme einem Zahlungsausfall und damit einer Staatspleite zumindest nahe.

Für die US-Regierung steht fest, dass ein Zahlungsausfall vorliegt: "Die Nachrichten von heute Morgen über die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit Russlands - der ersten seit mehr als einem Jahrhundert - zeigen, wie stark die Maßnahmen sind, die die USA zusammen mit ihren Verbündeten und Partnern ergriffen haben", sagte ein US-Regierungsvertreter am Rande des G7-Gipfels in Elmau. Die Folgen für die russische Wirtschaft seien "dramatisch".

Sicher ist, dass Russlands Probleme, seine Auslandsschulden zu bedienen, im Einklang mit den westlichen Bemühungen stehen, die Wirtschafts- und Finanzkraft des Landes zu schwächen. Moskau wirft dem Westen entsprechend vor, das Land in eine künstlich herbeigeführte Zahlungsunfähigkeit treiben zu wollen.

Zweifel an der Zahlungsbereitschaft

Eigentlich liegt es im ureigenen Interesse jedes Staates, seine Schulden zu bedienen. Auch Russland hat wiederholt bekräftigt, dass es willens sei, das zu tun.

Fällige Zinszahlungen auf Staatsanleihen hat Russland auch jüngst weiter geleistet, allerdings in Rubel - was nach Lesart der Gläubiger eigentlich schon als Zahlungsausfall einzustufen ist. Dafür hat das Land ein neues Verfahren über seine Zahlungsstelle NSD eingerichtet. Dieses Geld könne in Dollar umgetauscht werden, sobald die Russische Föderation wieder Zugang zu ihren vom Westen eingefrorenen Devisenkonten erhalte, hatte das Finanzministerium dazu mitgeteilt.

Am vergangenen Mittwoch hatte Kreml-Herrscher Wladimir Putin per Dekret verfügt, dass die Zahlung künftig allein in Rubel erfolgen könne. Am Tag darauf teilte das Finanzministerium in Moskau mit, es habe die Zinsen auf zwei in den Jahren 2027 und 2047 fällige Euro-Anleihen gezahlt. Die Zinsen in Höhe von umgerechnet 235 Millionen Dollar seien an die NSD gesendet worden. Damit sei die Zahlung erfüllt.

Unklar bleibt damit, ob der Kreml bereit ist, für Anleihezahlungen auch auf seine direkt kontrollierten Devisenreserven im Inland zurückzugreifen. Auch das russische Versäumnis vor ein paar Wochen, im Zuge einer nachträglichen Zinszahlung auch Verzugszinsen in Höhe von 1,9 Millionen Dollar zu begleichen, weckt Zweifel an der Bereitschaft Moskaus, insbesondere seine Gläubiger aus als "feindselig" eingestuften Ländern uneingeschränkt zu bedienen. In jedem Fall kann sich Russland bei Problemen immer auf die weitreichende Blockade seiner Zahlungskanäle berufen.

Welche Folgen zu erwarten sind

Da der Zahlungsausfall nicht aus akutem Geldmangel der russischen Regierung resultiert, sind die kurzfristigen Folgen überschaubar. Es ist weder mit einer drastischen Rubelentwertung noch dem Kollaps des Bankensystems zu rechnen.

Würde aber eine Rating-Agentur oder mindestens 25 Prozent der Gläubiger den Ausfall erklären, könnten die Gläubiger nach westlicher Rechtsauffassung von Russland die Rückzahlung sämtlicher Schulden verlangen, also auch der eigentlich noch nicht fälligen. Dabei ist das in Frage stehende Volumen vergleichsweise gering. Internationale Gläubiger halten derzeit insgesamt 15 Anleihen der Russischen Föderation mit einem Nennwert von rund 40 Milliarden Dollar. Möglicherweise ist aber auch das Eigentum russischer Staatsunternehmen im Ausland bedroht. Kläger könnten vor Gericht diesen Besitz als Gegenleistung für entgangene Zinszahlungen einklagen.

Die Ausgabe neuer Anleihen an westlichen Finanzmärkten wurde Russland ohnehin bereits verwehrt. Aber wenn das Land wieder Zugang zu den Finanzmärkten hätte, könnte es sich dort erst frisches Geld leihen, wenn seine Gläubiger vollständig befriedigt und alle aus dem Ausfall resultierenden Rechtsstreitigkeiten beigelegt sind.

Zudem würde die durch die Sanktionen eingeleitete Isolierung Moskaus vom globalen Finanzmarkt gefestigt. Auf neue Anleihen müsste die Russische Föderation wahrscheinlich auf Jahre hinaus höhere Risikoaufschläge, sprich Zinsen zahlen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 27. Juni 2022 um 16:41 Uhr.