Verhandlungen zwischen EU und USA Der Streit um TTIP - darum geht es

Stand: 10.10.2015 05:15 Uhr

Durch das Freihandelsabkommen TTIP würde zwischen der EU und den USA der weltgrößte Wirtschaftsraum entstehen - mit rund 800 Millionen Verbrauchern. Warum ist die Kritik so groß? tagesschau.de beantwortet die wichtigsten Fragen.

Von Sandra Stalinski, tagesschau.de

Worum geht es bei der Freihandelszone?

Die Europäische Union und die USA verhandeln seit Juli 2013 offiziell über das Freihandelsabkommen TTIP, beispielsweise um Zölle weitgehend anzugleichen. Die Idee: Wenn Waren, Kapital und Dienstleistungen frei zwischen Ländern gehandelt werden können, bringt das allen mehr Wohlstand. Am Ende entstünde ein Wirtschaftsraum mit mehr als 800 Millionen Verbrauchern und der Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Nach Angaben der Welthandelsorganisation (WTO) aus dem Jahr 2012 machen EU und USA gemeinsam knapp 45 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes (BIP) und 44 Prozent des Welthandels in Waren und Dienstleistungen aus.

Die Freihandelszone ist schon seit den 1990er-Jahren als Reaktion auf die boomenden asiatischen Volkswirtschaften im Gespräch. 2007 gab Angela Merkel den entscheidenden Anstoß, die Bemühungen scheiterten aber vor allem am damaligen US-Präsidenten George W. Bush und der US-Agrarlobby.

Wer verhandelt eigentlich mit wem?

Die Verhandlungen werden auf europäischer Seite von der EU-Kommission geführt, genauer: von der Generaldirektion Handel. Die politisch verantwortliche Kommissarin ist die schwedische Handelskommissarin Cecilia Malmström. Der EU-Ministerrat hat der EU-Kommission ein Mandat erteilt, auf dessen Grundlage sie nun die Verhandlungen im Namen der EU leitet. Handelsbeauftragter der USA ist Michael Froman, der das Amt des Handelsvertreters (USTR) innehat.

Die europäischen Mitgliedsstaaten werden in einem Sonderausschuss an den Verhandlungen beteiligt. Einmal wöchentlich stimmen sich Mitgliedstaaten und Kommission hier ab - auf diese Weise sind auch die Staats- und Regierungschefs in die Verhandlungen eingebunden. Und auch das EU-Parlament wird in allen Phasen der Verhandlungen unterrichtet. Am Ende muss das EU-Parlament TTIP zustimmen.

Warum ist der Widerstand gegen TTIP so groß?

Die Front der TTIP-Gegner ist breit: Der europaweiten Bürgerinitiative "Stop TTIP" haben sich nach eigenen Angaben mehr als 500 europäische Organisationen angeschlossen, darunter Attac, Greenpeace, die Deutsche Umweltstiftung, die Gewerkschaft ver.di, Brot für die Welt und der BUND. Mehr als 1,6 Millionen Bürger haben bereits gegen die beiden Freihandelsabkommen TTIP und CETA unterschrieben. Im November 2014 hat das Bündnis Klage vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht, weil die EU-Kommission abgelehnt hatte, sie als europäische Bürgerinitiative anzuerkennen. Das Verfahren dauert noch an.

Die Kritik der Gegner richtet sich vor allem gegen eine befürchtete Paralleljustiz durch Schadenersatzklagen vor privaten Schiedsgerichten. Außerdem befürchten sie, dass Arbeitnehmerrechte durch eine Angleichung an niedrigere US-Standards ausgehöhlt werden könnten; dass die EU unter Druck geraten könnte, Risikotechnologien wie Fracking oder Gentechnik zuzulassen und dass Lebensmittelstandards und Verbraucherschutz bei Kosmetika und Arzneimitteln sinken könnten. Chlorhühnchen aus den USA oder Hormonfleisch geistern als Schreckgespenster immer wieder durch die Medien.

EU-Kommission und Bundesregierung beteuern zwar, dass deutsche beziehungsweise europäische Standards nicht gesenkt werden sollen. Doch der Widerstand dürfte nicht zuletzt auch deshalb so gewachsen sein, weil die Kommission zunächst nur sehr spärliche Informationen zu den Verhandlungen veröffentlichte.

Welche Streitpunkte gibt es?

Die Liste der Streitpunkte ist beinahe so lang wie die der Verhandlungspunkte selbst. Sie reicht von Standards bei Landwirtschaft und Verbraucherschutz über bestimmte technische Standards bis hin zu den umstrittenen Schiedsgerichten.

Einer der Streitpunkte ist die sogenannte regulatorische Zusammenarbeit. Dabei geht es um frühzeitige Einbindung der jeweils anderen Seite - USA beziehungsweise EU - bei neuen Gesetzen im Rahmen eines eigenen Gremiums: dem Regulierungsrat. Die Grünen halten solche Kooperationen für problematisch. Denn sie könnte das europäische Vorsorgeprinzip bei der Gesetzgebung aufweichen, meint die grüne Bundestagsabgeordnete Bärbel Höhn. Das sei für Verbraucher gefährlich, wenn es etwa um Nanotechnologie geht, die auch in Kosmetika steckt.

Die EU-Kommission versucht, solche Bedenken zu zerstreuen. Der angedachte Regulierungsrat solle lediglich ermöglichen, dass sich Experten auf beiden Seiten des Atlantiks austauschen, heißt es in einer Erklärung. Das Gremium diene der technischen Annäherung, um Produkte und Dienstleistungen besser vermarkten zu können. "Es berührt keine bestehenden Gesetze zu Steuern, Arbeit oder Umwelt und zielt auch nicht auf eine Absenkung von hohen Standards."

Wie steht es beim umstrittenen Investitionsschutz?

Bei diesem besonders umstrittenen Punkt gibt es Bewegung. Vor kurzem hat die EU-Kommission einen Alternativvorschlag vorgelegt: Die viel kritisierten Schiedsgerichte sollen laut Handelskommissarin Malström durch ein "System der Investitionsgerichte" abgelöst werden. Dieses System unterliege "demokratischen Prinzipien und öffentlicher Kontrolle". Es enstpricht in seiner Funktionsweise deutlich mehr traditionellen Gerichten.

Die EU-Kommission will beispielsweise die Richter künftig in unabhängigen Verfahren auswählen lassen. Zudem soll es im neuen "Investitionsgerichtshof" eine zweite Instanz geben. Sie würde es Parteien erlauben, gegen Urteile Einspruch zu erheben. Außerdem soll es laut Malmström öffentliche Anhörungen geben, die Urteile würden öffentlich berufene Richter fällen.

Als erster Schritt soll demnach ein bilateraler Gerichtshof zwischen den USA und der EU eingerichtet werden. Sobald der Vorschlag der EU-Kommission mit den EU-Staaten und dem EU-Parlament abgestimmt ist, sollen die Pläne laut Malmström mit den USA verhandelt werden. In einem zweiten Schritt soll dann der Aufbau von Handelsgerichten für Investoren folgen.

Die Schiedsgerichte werden von Gegnern als eine Art Paralleljustiz kritisiert, über die Unternehmen Schadenersatz zulasten der Steuerzahler erstreiten, nationale Gesetze aushebeln oder eine Senkung von Verbraucher- und Umweltstandards durchsetzen können.

Solche Klagen sind bereits jetzt durch zahlreiche Investment-Abkommen möglich: Beispielsweise verklagte die schwedische Firma Vattenfall die deutsche Bundesregierung wegen des Atomausstiegs auf Schadensersatz von mehr als 3,5 Milliarden Euro. Das Verfahren findet vor dem "International Centre for Settlement of Investment Disputes" (ICSID), das der Weltbank angehört, statt - und nicht, wie im Fall von E.ON und RWE, vor deutschen Gerichten. Das ICSID informiert dabei aber nur über den Stand des Verfahrens, nicht über Inhalte.

Was erhoffen sich die Befürworter?

Ohne Zölle und Handelsbarrieren käme der Handel zwischen EU und USA weiter in Schwung - so zumindest die Theorie. Der Abbau von Zöllen würde Importe, wie beispielsweise von Autos, billiger machen. Durch einheitliche Technik- und Zulassungsstandards könnten Unternehmen Millionen sparen. Laut Außenhandelsverband BGA liegen die Zölle zwischen den USA und der EU im Schnitt zwischen fünf und sieben Prozent - das verringere die Gewinne spürbar.

Weil laut BGA allein 2012 Waren und Dienstleistungen im Wert von fast 800 Milliarden Euro aus der EU in die USA exportiert oder von dort importiert wurden, könnten die Unternehmen viele Milliarden sparen. Dies führt wiederum zu niedrigeren Preisen für die Verbraucher. Die Kunden könnten zudem von einheitlicheren technischen Standards profitieren. Oder: Eine US-Medikamentenzulassung könnte auch für die EU gelten, was doppelte Prüfverfahren und Bürokratie ersparen würde.

Was könnten die Vorteile für die Volkswirtschaften sein?

Dazu gibt es sehr viele Prognosen. Manche Experten erwarten, dass bei einem umfassenden Freihandelsabkommen das reale BIP der EU im Jahr 2027 um etwa 0,5 Prozentpunkte höher liegen wird, das der USA um etwa 0,4 Prozentpunkte. EU-Berechnungen sprechen von 400.000 neuen Arbeitsplätzen. Studien des ifo-Instituts erwarten, dass die realen Pro-Kopf-Einkommen langfristig in den USA um 13,4 Prozent, in der EU um fast fünf Prozent steigen werden. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung warnt dagegen vor zu hohen Erwartungen. Nach der Analyse verschiedener Studien zu TTIP kommt Sabine Stephan von der Hans-Böckler-Stiftung zu dem Schluss, dass die Wachstums- und Beschäftigungseffekte winzig wären. Sie zweifelt die Aussagekraft der positiven Wachstumsprognosen der verschiedenen Studien an, da sie einerseits zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kämen und andererseits unsauber vorgingen.

Wer sind Gewinner und Verlierer?

Für Deutschland hätte das Freihandelsabkommen TTIP möglicherweise große Vorteile. Bei den Ausfuhren sind die USA Deutschlands zweitwichtigster Handelspartner. Das Abkommen kann die Exporte in die USA laut Deutschem Industrie- und Handelskammertag (DIHK) um jährlich drei bis fünf Milliarden Euro erhöhen. Viele deutsche Unternehmen hoffen zudem auf einen besseren Zugang zu öffentlichen Aufträgen in den USA. Das ist oftmals noch schwierig, weil dort einzelne Bundesstaaten eigene Regelungen haben, die nicht von Washington verändert werden können.

Zwar gilt unter Wirtschaftswissenschaftlern grundsätzlich die These, dass Freihandel insgesamt zu höherem Wirtschaftswachstum führt. Doch es gibt auch Verlierer. Bei den jüngsten großen Freihandelsabkommen der EU mit Korea und mit Kanada (CETA) zeichne sich das bereits ab: Bei beiden Abkommen profitieren laut Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Schmucker vor allem Sektoren wie Maschinenbau, Chemie und Pharmazeutika. Die Verlierer seien in beiden Abkommen die bisher vor Importen geschützten Sektoren. Im Falle von Korea beispielsweise die Kleinwagenindustrie, die nun direkt mit europäischen Marken konkurriert. Im Fall von Kanada handelt es sich vor allem um Agrarprodukte.

Einer Studie des ifo-Instituts zufolge könnten auch zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer zu den Verlierern von TTIP gehören. Denn wenn EU und USA gegenseitig Zölle und Handelsbarrieren abbauen, könnte das Unternehmen anderer Länder, mit denen es keine Freihandelsabkommen gibt, schaden. Andererseits werden für diese Länder auch Wachstumsimpulse durch TTIP erwartet.

Wie geht es weiter?

Mitte Oktober beginnt die elfte Verhandlungsrunde. Allerdings verlaufen die Gespräche bisher schleppend. Ein Statusbericht der EU-Kommission zum Verhandlungsfortschritt zeigt laut Medienberichten, dass die Verhandlungspartner bei zehn von 24 Verhandlungskapiteln noch nicht einmal Positionen austauschen. Kaum jemand rechnet deshalb mehr mit einem Abschluss des Abkommens noch vor den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016. "Ob es vor den US-Wahlen zumindest zu einem Rohbau von TTIP kommt, daran habe ich zumindest meine Zweifel", sagte Bundeswirtschaftsminister Gabriel.