Börsengänge in Deutschland Fast wie zu Zeiten der T-Aktie

Stand: 02.10.2014 09:50 Uhr

Gestern Zalando, heute Rocket Internet: Zum ersten Mal seit dem New-Economy-Boom grassiert in Deutschland wieder Börsenfieber. Anders als damals bleiben Kleinanleger aber diesmal außen vor. Was vielleicht auch ganz gut so ist.

Von Heinz-Roger Dohms, tagesschau.de

Manfred Krug? Schreibt inzwischen Kurzgeschichten, die er in einem Buch namens "Schweinegezadder" zusammengefasst hat. Thomas Gottschalk? War dieser Tage laut "Münchner Abendzeitung" auf dem Oktoberfest und hat "Stimmung im Schützenzelt gemacht". Christoph Gottschalk? Von ihm weiß man nicht so genau, was er gerade treibt. Als gesichert aber darf gelten: Er hat keine Werbung für den Zalando-Börsengang gemacht. Übrigens ebenso wenig wie sein Bruder. Und genauso wenig wie Manfred Krug. 

Das Börsenfieber ist zurück in Deutschland. Am gestrigen Mittwoch ging der Online-Modehändler Zalando aufs Parkett gegangen - eine Firma, die erst ein einziges Mal Gewinn gemacht hat, aber schon auf einen Unternehmenswert von rund sechs Milliarden Euro taxiert wird. Das ist ähnlich viel, wie die Deutsche Lufthansa wert ist.

Am heutigen Donnerstag folgte nun Rocket Internet, eine Beteiligungsgesellschaft, über die die Öffentlichkeit kaum mehr weiß, als dass sie in Start-up-Unternehmen aus der Techbranche investiert. Obwohl sich Rocket Internet in einem nur schwach regulierten Börsensegment notieren lässt, war der Run auf die Aktie im Vorfeld  des Börsenstarts sogar noch größer als bei Zalando. Gut sechs Milliarden Euro soll die Marktkapitalisierung betragen - mehr als bei manchem DAX-Konzern.

Damals schlug der Hype ins Absurde um - und heute?

Angesichts solcher Zahlen werden Erinnerungen wach an die späten 90er-Jahre, als die  Deutschen ihre Liebe zur Börse entdeckten. Manfred Krug trommelte damals im Fernsehen für die "T-Aktie", die Gottschalk-Brüder wenig später für die "Aktie Gelb" der Deutschen Post. Wer beim Börsengang der Telekom mit ein paar Anteilsscheinen bedacht wurde, der fühlte sich, als habe er im Lotto gewonnen.

Wie das Ganze endete, ist bekannt: Der Hype schlug ins Absurde um. Vermeintliche Technologieunternehmen, die nicht mehr als eine Geschäftsidee hatten, waren plötzlich Milliarden wert - bis die New-Economy-Blase im Jahr 2000 platzte und das Rendezvous mit der Börse für Zehntausende deutsche Kleinanleger im Liebeskummer endete.

Wie sehr der sogenannte IPO-Markt - IPO ist der Fachbegriff für Börsengänge - bis heute unter dem damaligen Crash leidet, zeigen Zahlen, die der Finanzdatendienst Thomson Reuters für tagesschau.de zusammengestellt hat. Gerade einmal 197 Börsengänge gab es seit 2001 in Deutschland. Zum Vergleich: 1999 und 2000 waren es in nur 24 Monaten 279. In besonders mageren Jahren fanden zuletzt sogar nur drei oder vier Börsengänge statt. Auf so eine Zahl kam die Frankfurter Börse in den Boomjahren in einer Durchschnittswoche.

Doch nun?

Zalando und Rocket Internet sind nur der Anfang. Vergangene Woche teilte der Immobilienkonzern TLG mit, noch in diesem Jahr an die Börse zu gehen. Diese Woche kündigte der drittgrößte deutsche Kabelnetzbetreiber Tele Columbus selbiges an. Ebenfalls kurz vor der Erstnotiz steht Steinhoff, ein deutschstämmiger Milliardenkonzern, der bislang an der Börse in Südafrika notiert war - und der hinter Ikea als größter Möbelhändler der Welt gilt. Und das ist noch nicht alles: Die Liste der IPO-Kandidaten ist lang, sie reicht von der Parfümkette Douglas bis zum Online-Marktplatz Scout 24 und vom Scheinwerferhersteller Hella bis zur Reederei Hapag-Lloyd. Steht Deutschland vor einem neuen IPO-Boom?

Der Dax steht heute sogar höher als 2000

"Es handelt sich eher um eine Rückkehr zur Normalität", sagt Reinhold Ernst, IPO-Experte bei der Wirtschaftskanzlei Hengeler Mueller. Was auffällt: Anders als kurz vor dem 2000er-Crash sind es diesmal nicht nur Internetunternehmen, die an die Frankfurter Börse streben, sondern auch ganz normale Industrieunternehmen. In vielen Fällen ist es zudem so, dass Private-Equity-Unternehmen (also "Heuschrecken"), die ein Unternehmen einige Jahre gehalten haben, dieses nun mit Gewinn über die Börse verkaufen wollen. TLG Immobilien oder Scout 24 sind Beispiele dafür. In den vergangenen Jahren war es oft so, dass eine "Heuschrecke" einfach nur an eine andere verkaufte. Zurzeit scheint der "Exit" über die Börse aber die attraktivere Variante zu sein.

Das wiederum habe mit den "attraktiven Bewertungsniveaus" zu tun, sagt David Dreyfus von der Zürcher IPO-Beratung Lilja & Co. Bei rund 9500 Punkten steht der Dax momentan - und damit sogar höher als auf dem Höhepunkt der New-Economy-Euphorie 2000. Das heißt: Investoren sind bereit, für deutsche Unternehmen gemessen an Umsatz und Gewinn sehr viel Geld zu bezahlen. In den letzten Jahren galt das vornehmlich für Firmen, die schon an der Börse waren. Nun sind plötzlich auch die Neuankömmlinge wieder begehrt.

Für Dreyfus ist das nur logisch, "denn in den USA und Großbritannien ist die Zahl der Börsengänge bereits 2013 und in der ersten Jahreshälfte 2014 deutlich gestiegen". Deutschland - wo der 2000er-Crash eine viel tiefere Wirkung hinterließ als anderswo - sei insofern "fast ein bisschen spät dran". Das hat freilich auch damit zu tun, dass es "in Amerika eine ganz andere Historie wachstumsstarker Unternehmen gibt als in Deutschland", so Ernst. Google, Apple, Facebook, Twitter - alles US-Konzerne. Hierzulande sind Zalando und Rocket Internet hingegen Ausnahmeerscheinungen.

"Die Kleinanleger sind heute außen vor"

Der vielleicht größte Unterschied zum Boom der späten 90er ist, "dass die Kleinanleger praktisch außen vor sind", so Ernst. Klar, jedem Sparer war es in den zurückliegenden Wochen unbenommen, zu seiner Bank zu gehen und Aktien von Zalando oder Rocket Internet zu ordern. Bloß, dass er bei der Zuteilung der Papiere zum Zuge kam, war eher unwahrscheinlich.

"Die Zeiten, in denen große Aktienkontingente für die kleinen Privatanleger reserviert wurden, sind lange vorbei", sagt Dreyfus. Es ist nämlich nicht nur so, dass sich viele Kleinaktionäre von der Börse abgewandt haben - mit ihrer schwindenden Zahl sind die Privatanleger umgekehrt auch für die Emittenten uninteressant geworden.

Das freilich muss gar kein Unglück sein. "Die Bewertung vieler Internetaktien ist schon wieder sehr hoch", meint Dreyfus. Der kleine 2014er-Boom wird zwar sicherlich nicht mit einem Horrorcrash enden wie der große 1999er-Boom. Aber die jetzige Euphorie um Zalando und Rocket Internet könnte schon bald wieder verfliegen. Dies wäre dann ausnahmsweise mal ein Kelch, der an den Kleinanlegern vorübergeht.