Interview

Film "Zirkus is nich" zeigt Kinderarmut "Die größte Armut ist die emotionale"

Stand: 16.02.2007 17:49 Uhr

Deutschlands Kindern geht es nicht besonders gut – gerade erst hat das eine Unicef-Studie belegt. Die Regisseurin Astrid Schult zeigt in ihrem Dokumentarfilm "Zirkus is nich" eins dieser Kinder: den achtjährigen Dominik aus Berlin-Hellersdorf. Die Filmemacherin und die Sozialarbeiterin im Berliner Kinderzentrum "Die Arche", Mirjam Müller, sprachen mit tagesschau.de darüber, welche Formen der Vernachlässigung von Kindern sie bei ihrer Arbeit erfahren haben.

tagesschau.de: Frau Schult, Ihre Dokumentation "Zirkus is nich" hat auf der Berlinale für viel Aufsehen gesorgt, weil sie ein immer drängenderes Problem in Deutschland zeigt: die Armut und Vernachlässigung von Kindern. Wo haben Sie Ihren achtjährigen "Hauptdarsteller" getroffen?

Astrid Schult: Dominik hat mich bei meinem Besuch im Kinder- und Jugendzentrum "Die Arche" in Berlin-Hellersdorf herumgeführt. Ich fand es toll, dass es so eine Einrichtung gibt, gleichzeitig hat es mich aber auch erschreckt, dass es so etwas inzwischen auch geben muss.

tagesschau.de: Frau Müller, Sie arbeiten als Sozialpädagogin in der "Arche". Hat sich die Situation für Kinder in den letzten Jahren verschlechtert?

Mirjam Müller: Ja. Immer mehr Kinder, Jugendliche, aber auch ganze Familien kommen regelmäßig zum Essen zu uns. Wir geben mittlerweile allein in Hellersdorf täglich mehr als 500 Essen aus. Seit der Einführung von Hartz IV suchen die Menschen nach mehr Hilfe, nach mehr Halt.

tagesschau.de: Woran erkennt man die neue Kinderarmut?

Müller: Teilweise tragen die Kinder kaputte Schuhe, schlechte Kleidung oder Kleidung, die nicht den Wetterverhältnissen angemessen ist. Und sie haben Hunger. Es gibt Kinder, die stecken überall Essen ein, um vorzusorgen, weil sie nicht wissen, ob es zu Hause ausreicht.

Über den Film und die Macherin

Astrid Schult, 1979 in Hessen geboren, studiert Dokumentarfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. Für ihren Film "Zirkus is nich" hat sie sechs Wochen lang den achtjährigen Dominik begleitet, der mit seiner allein erziehenden Mutter und zwei kleineren Geschwistern in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Hellersdorf lebt. Die Mutter ist mit der Erziehung überfordert und überträgt einen großen Teil der Verantwortung auf Dominik. Der einzige Ort, an dem auch er einmal Kind sein darf, ist das Kinderzentrum "Arche".

tagesschau.de: Laut einer Unicef-Studie leiden Kinder in Deutschland nicht nur materielle, sondern auch emotionale Not...

Müller: Die größte Armut, die wir sehen, ist tatsächlich die emotionale. Viele Kinder fühlen sich alleine gelassen und haben keine Bezugsperson. Sie kommen auch deshalb zum Essen zu uns, weil sie mit Menschen am Tisch sitzen wollen, die ihnen zuhören. In vielen Familien wird gar nicht mehr gesprochen. Da sitzt dann jedes Kind in seinem Zimmer mit dem Fernseher und isst sein eigenes Abendbrot. Oder Kinder müssen - wie im Fall von Dominik - in die Verantwortungsrolle eines Erwachsenen schlüpfen, weil die Eltern nicht genug Kraft haben.

Schult: Dominik ist mit seinen acht Jahre für seine Mutter der Ansprechpartner, was die Lebensplanung angeht. Und jemand, mit dem sie ihren Alltag gemeinsam bewältigt. Als Kind wünscht man sich wohl manchmal auch eine andere Art der Aufmerksamkeit.

tagesschau.de: Woher kommt diese Kraftlosigkeit dieser Eltern?

Schult: Das hat sicher etwas mit der beruflichen Perspektivlosigkeit zu tun. Zugleich findet ein ganz starker Rückzug in die eigenen vier Wände statt - viele sitzen den ganzen Tag vor der Glotze. Die Menschen tauschen sich nicht mehr untereinander aus und verlieren so den Anschluss an die Außenwelt.

"Das ist fast schon eine Art Ghetto"

Müller: Diese Perspektivlosigkeit ist in Hellersdorf extrem ausgeprägt. Dort sagen schon Jungendliche mit 17 Jahren oder jünger: 'Wir wollen nicht mehr, wir haben keine Lust mehr aufs Leben.’ Sie haben schon von klein auf wenig Bildung mitbekommen, brechen die Schule ab oder werden zu früh schwanger und haben dadurch keine Ausbildung. Sie kennen nur das Milieu um sich herum – das ist fast schon eine Art Ghetto. Und dort herrscht ganz viel Hoffnungslosigkeit.

Schult: Im Fall von Dominiks Mutter ist das auch nicht ganz unberechtigt: Sie hat vier Kinder von zwei Männern, die sich von ihr getrennt haben. Sie hat keine Ausbildung, also beruflich kaum eine Perspektive, keinen großen Freundeskreis, der sie auffangen könnte. Sie versucht zwar, ihre Rolle als Mutter auszufüllen und ihre Kinder so gut es geht großzuziehen. Aber ihr eigenes Leben ist für sie abgeschlossen.

tagesschau.de: Welche Rolle spielen die abwesenden Väter?

Müller: Eine große. Ich hatte vor ein paar Tagen eine Unterhaltung mit einem Kind. Es sagte: 'Mein Papa ist entweder Steven oder Marcel oder ich weiß auch nicht. Aber irgendjemand muss doch mein Papa sein.' Wir haben viele Jungs, die total verweichlicht sind, weil sie keine männliche Bezugsperson haben, an denen sich sich messen können.

Schult: Als ich Dominik gefragt habe, was sein größter Wunsch ist, hat er gesagt: 'Dass Papa zurückkommt.'

tagesschau.de: Wenn die Eltern überfordert sind, wer muss dann einspringen? Schulen, Jugendämter?

Schult: Die Schulen sind mit der Aufgabe der Erziehung überfordert. Es ist ja schon anstrengend genug, einen Haufen eher unaufmerksamer Kinder zu unterrichten. Sie können nicht all das übernehmen, was die Eltern nicht schaffen. Und selbst wenn, dann kommen die Kinder nach Hause und erleben dort das Gegenteil, was ihnen in der Schule beigebracht worden ist.

Müller: Viele engagierte Lehrer stoßen einfach auch an ihre Grenzen: Wenn Du mehr mit dem Jugendamt zu tun hast als mit dem Schulbuch, dann ist das einfach nur traurig. Und auch die zuständigen Jugendamtmitarbeiter haben zum Teil 100 Fälle oder mehr gleichzeitig. Natürlich können sie niemals das einzelne Kind im Blick behalten.

tagesschau.de: Familienministerin Ursula von der Leyen hat angekündigt, ein Frühwarnsystem für vernachlässigte Kinder aufzubauen. Könnte das eine Lösung sein?

Müller: Ich sehe die große Chance darin, dass sich die Ämter und Einrichtungen besser aufeinander abstimmen. Im Idealfall könnte dann zum Beispiel das Jugendamt zu uns oder anderen Stellen Kontakt aufnehmen, die näher an den Familien dran sind. Denn die Familien brauchen in erster Linie Vertrauenspersonen. Das kostet aber viel Kraft, dafür braucht man viele Menschen – und viel Geld.

Schult: Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass immer noch zu wenig Geld da ist. Es müssten vor allem mehr Leute in die Familien gehen. Weil es eben oft die Eltern sind, die eine Therapie oder Unterstützung brauchen.

Die Fragen stellte Carolin Ströbele, tagesschau.de