Medizinisches Personal in einer Klinik in Berlin
Exklusiv

Coronavirus Immer mehr Ärzte und Pfleger infiziert

Stand: 02.04.2020 17:06 Uhr

Immer öfter infizieren sich Ärzte und Pflegekräfte mit dem Coronavirus. Doch nach Recherchen von NDR, WDR und SZ hat bundesweit niemand einen Überblick, wie viel medizinisches Personal bereits ausfällt.

Am gefährlichsten ist das Coronavirus für die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen. So sind von den etwa 140 Bewohnern des Hanns-Lilje-Heims im niedersächsischen Wolfsburg innerhalb einer Woche 22 Corona-Infizierte verstorben.

Das Robert Koch-Institut (RKI) stellt in seinem aktuellen Tagesbericht fest: "Es häufen sich Berichte über Covid-19 bedingte Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen". Die Zahl der Verstorbenen, so heißt es da nüchtern, sei dabei "vergleichsweise hoch". Die Konsequenz: Das RKI schicke nun "Feldteams" in Alten- und Pflegeheime - zur "Ausbruchseindämmung".

Ebenfalls aus Wolfsburg gab es diese Woche ein anderes Alarmsignal: Dort verfügte eine Klinik vorübergehend einen Aufnahmestopp für Patienten, weil sich mehr als ein Dutzend Mitarbeiter mit dem Virus infiziert hatte.

Wie weit das Coronavirus inzwischen in Alten- und Pflegeeinrichtungen sowie beim medizinischen Personal in Kliniken gekommen ist, zeigt eine Umfrage von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) unter den knapp 400 Gesundheitsämtern der Republik.

In Nordrhein-Westfalen, teilen die Behörden auf Anfrage mit, seien bis zum Mittwoch 322 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von ambulanten und vollstationären Pflegeeinrichtungen mit dem Virus infiziert gewesen. Bei diesen Einrichtungen handelt es sich überwiegend um Altenpflegeheime. 1485 Mitarbeiter befänden sich zudem in Quarantäne.

Viele Arztpraxen in Süddeutschland zu

In Baden-Württemberg wurden nach Angaben des Landesgesundheitsamts, Stand Mittwoch, 566 Infektionen bei medizinischem Personal registriert. Das ist nahezu eine Verdopplung der Fälle im Vergleich zur Vorwoche. In Bremen wurden bisher 18 Beschäftigte im medizinischen Bereich positiv getestet. Im Landkreis Zwickau sind nach Angaben des dortigen Gesundheitsamts 60 Ärzte und Pflegekräfte mit dem Virus infiziert.

Besonders betroffen ist Bayern: Dort waren nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung 244 Arztpraxen geschlossen wegen Quarantäne, fehlender Schutzausrüstung oder fehlender Kinderbetreuung. Damit liegt das Bundesland im bundesweiten Vergleich vorn. In Baden-Württemberg sind mindestens 80 Arztpraxen geschlossen.

Erst am Mittwoch hatte sich die Kassenärztliche Vereinigung Bayern mit einem Hilferuf an die Öffentlichkeit gewandt und von einem "eklatanten Mangel notwendiger Schutzausrüstung" gesprochen. "Wenn nicht heute neues Material eintrifft", hieß es aus Reihen des Vorstands, "dann brechen düstere Zeiten für die ambulante Versorgung im Freistaat an." In Norddeutschland ist die Lage weniger angespannt. So haben in Schleswig-Holstein derzeit nur 14 Arztpraxen geschlossen.

150 Ämter gaben Antwort

Von den knapp 400 Gesundheitsämtern, die NDR, WDR und SZ nach den aktuellen Zahlen des infizierten medizinischen Personals gefragt hatten, antworteten rund 150. Viele der Ämter konnten keine Angaben machen. Teils baten sie um Verständnis, weil sie seit Wochen personell massiv überlastet seien, teils verwiesen sie darauf, dass die Zahlen grundsätzlich nicht erhoben würden. Knapp 80 Gesundheitsämter lieferten Zahlen oder Einschätzungen. Von diesen wiederum meldeten die meisten für ihre Zuständigkeitsbereiche Zahlen im einstelligen Bereich.

Mit einer besonderen Maßnahme reagierte dagegen die bayerische Landesregierung auf die Rechercheanfrage. Dort bat das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die Gesundheitsämter des Landes, die Presseanfrage nicht zu beantworten, "da diese Umfragen nicht mit uns abgestimmt sind", wie es in der Mitteilung an die Ämter vor Ort hieß.

Keine zentrale Erfassung der Zahlen

Tatsächlich existiert bundesweit keine gesicherte zentrale Erfassung der Infiziertenzahlen in der Gesundheitsversorgung. Aus vielen Bundesländern sowie aus dem Bundesgesundheitsministerium hieß es, dass dort die Zahl des infizierten Personals unter Kliniken, Ärzten und Pflegern nicht erfasst würde.

Das Robert Koch-Institut teilte auf Anfrage mit, dass es von mindestens 2300 Infizierten in Reihen des medizinischen Personals in Deutschland ausgehe, verwies jedoch darauf, dass die tatsächliche Zahl vermutlich höher liege. Es gebe zwar eine Meldepflicht, nach der die Gesundheitsämter dem RKI mitteilen müssten, wenn ein Arzt infiziert sei. Doch diese Meldungen würden derzeit "vermutlich nicht prioritär" behandelt, schreibt RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher. "In den Zeiten der Krise müssen die Aufgaben innerhalb der Gesundheitsämter zugunsten der notwendigen Maßnahmen des Infektionsschutzes priorisiert werden, die Dokumentation erfolgt vermutlich nachrangig."

"Versäumnisse im Meldesystem"

Ärztevertreter wie Dr. Susanne Johna, Vorsitzende des Marburger Bundes, der 125.000 Mitglieder in Deutschland vertritt, sieht dagegen "Versäumnisse im Meldesystem" und weist daraufhin, dass die Erfassung der Meldungen über die Gesundheitsämter immer noch nicht elektronisch erfolgten, sondern papiergebunden. Teils würden Meldungen noch per Fax versandt. Es sei "traurig und nicht nachvollziehbar, dass Länder wie Italien und Spanien diese Zahlen haben, wir aber nicht."

Deshalb fordere der Marburger Bund, dass medizinisches Personal - nach Berufsgruppen getrennt, also Pfleger, Ärzte - auch landesweit zentral erfasst werde, "damit wir die Erkrankungen dort auch vergleichen können mit den Erkrankungszahlen in der Bevölkerung, die nicht im Gesundheitsdienst arbeitet." Das, so Johna, würde wichtige Hinweise über die Entwicklungen in den Krankenhäusern geben und sei von Bedeutung, um überblicken zu können, welche Schutzmaßnahmen geeignet seien und welche nicht.

Darüber hinaus forderte Johna "eine bevorzugte Testauswertung des medizinischen Personals im Hinblick auf das Virus". Testergebnisse über Infektionen bei medizinischem Personal müssten schneller vorliegen, um in Kliniken und Arztpraxen rasch die richtigen Entscheidungen treffen zu können.