Interview

Tatverdächtige von Köln "Ein Gefühl der Narrenfreiheit"

Stand: 08.01.2016 16:44 Uhr

Unter den Tatverdächtigen von Köln sollen Asylbewerber sein. Haben die Übergriffe etwas damit zu tun, dass die Männer anders sozialisiert wurden? Der Wissenschaftler Ahmet Toprak erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, warum unterschiedliche Frauenbilder eine Rolle spielen.

tagesschau.de: Welche Rolle spielt es, dass die Männer vermutlich aus muslimischen Gesellschaften kommen?

Ahmet Toprak: Auch in muslimischen Gesellschaften gibt es unterschiedliche Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder. Ich vermute in diesem Fall ein konservatives Bild: Aus dieser Sicht sind die Männer diejenigen, die für das finanzielle Wohl der Familie sorgen und nach außen hin auftreten. Die Frau ist für die Erziehung der Kinder und die Führung des Haushaltes zuständig. Sie ist nach innen orientiert. Das, was sie hier im Gegensatz dazu erleben, passt nicht zu ihrem Weltbild. Auch die Sexualmoral ist in muslimischen Familien oft eine andere. Die Eltern tabuisieren oft diese Themen, die Kinder dürfen keine Fragen dazu stellen. Das Thema wird ausgeklammert.

Prof. Dr. Ahmet Toprak, FH Dortmund
Zur Person

Ahmet Toprak ging in der Türkei auf die Grundschule und zog dann nach Köln. Heute lehrt er Erziehungswissenschaften in Dortmund. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Rollenbildern in muslimischen Milieus. 2010 war er an einer Expertise für das Bundesfamilienministerium beteiligt. Das Thema: Gewaltphänomene bei männlichen muslimischen Jugendlichen.

tagesschau.de: Das Frauenbild in muslimischen Kontexten wird oft als patriarchalisch beschrieben. Welche Rolle spielt die Religion?

Toprak: Es sind patriarchalische Geschlechterrollen, in denen der Mann das Sagen hat. Bei den Vorfällen in Köln gehe ich aber nicht von einem Zusammenhang mit religiösen Hintergründen aus. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Männer Frauen begrapscht und teils offenbar sogar vergewaltigt haben, sind diese Männer aus Sicht der Religion ehrlos. Frauen sind da, um sie zu beschützen.

tagesschau.de: Was kann Auslöser für solche Handlungen sein?

Toprak: Es gibt mehrere Aspekte, die dazu beitragen: Alkohol, Langweile, Frust. Diese Männer hatten vermutlich bestimmte Vorstellungen, wie es in Deutschland ist. Ob diese angemessen sind oder nicht, ist eine andere Frage. Es kann sein, dass diese Erwartungen insgesamt enttäuscht wurden. Es kann auch sein, dass - falls es sich um Flüchtlinge handelt - sie durch die Unterkünfte psychische Probleme bekommen haben. Vielleicht haben sie auf der Flucht etwas erlebt, das wir nicht einschätzen können. Daher ist ein Erklärungsversuch sehr komplex.

tagesschau.de: Wenn wir davon ausgehen, dass die Männer in einer muslimischen Gesellschaft sozialisiert wurden. Welche Rolle spielt dort das Thema Gewalt an Frauen?

Toprak: Gewalt gegen Frauen und Gewalt innerhalb der Familie ist leider eine Problematik, die überall auftritt. Sie tritt auch in muslimischen Gesellschaften auf. In der Türkei etwa wird das Thema gerade viel diskutiert. Vom Vater geht Dominanz aus. Er entscheidet - und schlägt im Zweifel gegenüber den Kindern oder der Ehepartnerin zu. In bestimmten muslimischen Milieus ist Gewalt auch ein Teil der Erziehung. Konflikte werden in vielen konservativen muslimischen Familien nicht immer offen ausgetragen.

Wenn die Kinder das so gelernt haben, übertragen sie das auf andere und hoffen, damit auch Erfolg zu haben. Das kann ein Grund für das sein, was wir in Köln gesehen haben. Hinzu kommen muss aber noch mehr, damit die Männer so austicken wie in Köln. Zudem muss man hier sehr vorsichtig sein und darf nicht alle über einen Kamm scheren.

tagesschau.de: Wie wirkt unsere offene Gesellschaft auf diese konservativen Männer?

Toprak: Sie haben das Gefühl, hier seien sie narrenfrei. Sie denken, sie können tun und lassen, was sie wollen. In kleineren Städten in der Türkei, in der arabischen Welt - da sind die Frauen in der Öffentlichkeit weniger präsent. Auf einmal stoßen sie hier auf eine offene Gesellschaft, das schockiert sie. Abstrakt wissen sie das vielleicht, aber das zu erleben, ist etwas anderes.

Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.