Zuwanderung und Fachkräftemangel Braucht Deutschland mehr ausländische Arbeitskräfte?

Stand: 19.10.2010 10:52 Uhr

Schon jetzt fehlen angeblich 400.000 Fachkräfte in Deutschland. Je nach Prognose könnte sich diese Zahl in 20 Jahren mehr als verzehnfachen. Die Wirtschaft fordert, die Zuwanderung für Fachkräfte zu erleichtern. tagesschau.de erklärt, unter welchen Bedingungen Zuwanderer in Deutschland arbeiten.

Wie viele Fachkräfte fehlen in Deutschland?

Der Deutsche Industrie und Handelskammertag DIHK geht davon aus, dass schon 400.000 Meister, Ingenieure und gut ausgebildete Facharbeiter fehlen. Die Zahl werde jährlich um etwa zehn Prozent steigen. Damit fehlen dieser Berechnung zufolge bis 2030 knapp 2,7 Millionen Fachkräfte. Die Prognosen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das der Bundesanstalt für Arbeit wissenschaftlich zuarbeitet, fallen noch schlimmer aus: Danach fehlen in 20 Jahren rund 5,5 Millionen Fachkräfte. Der Branchenverband BITKOM zählt zurzeit 28.000 offene Stellen für IT-Spezialisten. Das sind 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Gesucht werden vor allem Softwareentwickler und Mitarbeiter für den Support.

Aktuell sieht die Bundesagentur für Arbeit u.a. Engpässe bei den Ingenieuren und den Elektronikern, aber auch bei den Ärzten und Altenpflegern. Auf Anfrage von tagesschau.de erklären die Nürnberger: "Heute haben wir 44 Millionen Erwerbsfähige. 2050 werden es ohne Zuwanderung nur noch rund 26 Millionen sein. Ohne ausländische Fachkräfte ist der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften langfristig deshalb nicht zu decken."

Wie ist der Zuzug ausländischer Fachkräfte bislang geregelt?

Das hängt davon ab, ob sich um EU-Bürger handelt, um Bürger aus Ländern, die nach der Osterweiterung 2004 der EU beigetreten sind, oder um Bürger aus so genannten Drittstaaten. Grundsätzlich gilt für EU-Bürger in der gesamten Europäischen Union die uneingeschränkte Freizügigkeit für Arbeitnehmer. EU-Bürger brauchen in Deutschland keine Arbeitserlaubnis, um zu arbeiten. Für die Bürger der neuen EU-Staaten gilt das nur eingeschränkt. Menschen aus Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn unterliegen der Arbeitsgenehmigungspflicht.

Menschen, die nicht aus der EU kommen und nicht aus der Schweiz, brauchen einen so genannten Aufenthaltstitel, wenn sie in Deutschland arbeiten wollen. Das Gesetz unterscheidet vier verschiedene Aufenthaltstitel: Sichtvermerk oder Visum, (befristete) Aufenthaltserlaubnis, (unbefristete) Niederlassungserlaubnis und Erlaubnis zum Daueraufenthalt. Die Aufenthaltserlaubnis muss genau definieren, ob und welche Art von Arbeit erlaubt ist. Die Niederlassungserlaubnis berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Eine Niederlassungserlaubnis wird nur erteilt, wenn der Ausländer als integriert gilt. Kriterien hierfür sind die Dauer seines Aufenthalts, Kenntnisse der deutschen Sprache und ob er über einen ausreichenden Wohnraum für sich und seine Familie verfügt.

Der Arbeitsmarktzugang von Ausländern aus Drittstaaten wird durch die Beschäftigungsverordnung limitiert. Diese Verordnung beschränkt den Zugang auf bestimmte Berufsgruppen, z.B. Akademiker, IT-Fachkräfte oder leitende Angestellte. Sie alle müssen ein konkretes Arbeitsangebot nachweisen. Die Bundesagentur für Arbeit erteilt ihre notwendige Zustimmung nur dann, wenn die so genannte Vorrangprüfung ergebnislos verläuft. Geprüft wird, ob ein geeigneter deutscher Arbeitnehmer oder ein Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern zur Verfügung steht. Die ausländischen Arbeitnehmer müssen zu den gleichen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden wie vergleichbare deutsche Arbeitnehmer. Hintergrund der Beschäftigungsverordnung sind der Anwerbestopp, den die damalige Bundesregierung 1973 erlassen hat, und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit.

Was hat die deutsche Version der Greencard gebracht?

Zwischen 2000 und 2004 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung ein "Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs" aufgelegt. Experten der Informationstechnik, die aus Drittstaaten (nicht EU, nicht Schweiz)  stammten, erhielten im Rahmen der Greencard eine auf fünf Jahre befristete Aufenthaltsbewilligung und eine Arbeitserlaubnis, die an bestimmte Bedingungen geknüpft war. So mussten die Fachkräfte entweder einen entsprechenden Hochschulabschluss vorweisen oder mindestens 50.000 Euro verdienen. Über die Greencard kamen knapp 18.000 IT-Experten nach Deutschland. Die Greencard wurde in der deutschen Öffentlichkeit intensiv diskutiert. Vertreter der Wirtschaft begrüßten die Regelung. Der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers dagegen versuchte, die Greencard mit einer Postkartenaktion zu bekämpfen. Auf einer Interviewäußerung Rüttgers basiert das Schlagwort "Kinder statt Inder".

2005 ist die Greencard durch entsprechende Regelungen im neuen Zuwanderungsgesetz ersetzt worden, die noch mal etwa 15.000 IT-Fachkräfte in Anspruch genommen haben. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien BITKOM hält die Greencard deshalb für eine Erfolgsgeschichte. "Sie hat drei volle Hochschuljahrgänge der Informatik zusätzlich nach Deutschland gebracht", sagt BITKOM-Präsident August-Wilhelm Scheer. Die Infopark AG, die webbasierte Informationssysteme entwickelt, äußert sich skeptisch. Die Befristung der Arbeitserlaubnis auf fünf Jahre spräche gegen ein langfristiges Arbeitsverhältnis. Oft fehle es auch den qualifizierte Bewerbungen aus Indien und dem asiatischen Raum an Sprachkenntnissen.

Für wen werden sonst noch Ausnahmen gemacht?

Hochqualifizierte können sofort eine Niederlassungserlaubnis erhalten. Mit- oder nachziehende Familienangehörige sind zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt. Als hoch qualifiziert gelten insbesondere Wissenschaftler mit besonderen Fachkenntnissen, Lehrpersonen oder wissenschaftliche Mitarbeiter in herausgehobener Position sowie andere Spezialisten und Angestellte mit Berufserfahrung, die ein Gehalt in Höhe von mindestens 66.000 Euro erhalten. Diskutiert wird derzeit darüber, diese Grenze auf 40.000 Euro abzusenken.

Selbständige erhalten im Regelfall eine Aufenthaltserlaubnis, wenn sie mindestens 250.000 Euro investieren und mindestens fünf Arbeitsplätze schaffen. Studenten können nach erfolgreichem Studienabschluss bis zu einem Jahr in Deutschland bleiben, um sich einen Arbeitsplatz zu suchen.

Was kann eine Beschäftigung verhindern?

Nach einer Studie des Institutes der Deutschen Wirtschaft leben in der Bundesrepublik rund 2,8 Millionen Zuwanderer mit einem Schul- oder Berufsabschluss, den sie im Ausland gemacht haben. 1,3 Millionen Abschlüsse entfallen auf die Branchen Technik und Ingenieurswesen. 500.000 Fachkräfte kommen aus den Bereichen Recht und Wirtschaft. Für all diese ausländischer Abschlüsse gibt es bisher keine einheitlichen Kriterien. Betroffene wissen oft nicht, an welche Stellen sie sich wenden sollen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass rund 300.000 der Berufsabsolventen eine Anerkennung ihrer Abschlüsse beantragen werden, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Ein Gesetzentwurf aus dem Bundesbildungsministerium sieht vor, dass die zuständigen Berufskammern über die Anerkennung der jeweiligen Abschlüsse entscheiden sollen. Je nach Branche soll die Handwerkskammer, die Industrie- und Handelskammer oder eine Ärzte- oder Apothekerkammer zuständig sein. Die jeweilige Berufskammer muss dann binnen drei Monaten entscheiden, ob der vorgelegte Abschluss mit der entsprechenden deutschen Ausbildung gleichwertig ist.

Wer ist bereit, nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten?

Das Bundesamt für Migration und Zuwanderung hat Hochqualifizierte befragen lassen. Danach sind solche Zuwanderer im Schnitt 40 Jahre alt. Der Anteil der Männer ist mit 83 Prozent sehr viel höher als der der Frauen mit 17 Prozent. Die größte Gruppe der Hochqualifizierten stellen Zuwanderer aus den USA, gefolgt von denen aus Russland. Die Amerikaner arbeiten in hoch und höchst bezahlten Positionen großer Unternehmen. Sie planen in fast 80 Proztent der Fälle, nur kurz- oder mittelfristig in Deutschland zu bleiben. Aus Russland und anderen osteuropäischen Ländern kommen vor allem Naturwissenschaftler. Personen aus diesen Ländern sind auch verstärkt in vergleichsweise niedrigeren Einkommenskategorien vertreten, haben aber die Absicht, langfristig oder für immer in Deutschland zu bleiben.

Mehr als drei Viertel der Hochqualifizierten sind verheiratet, die meisten davon mit einem Partner oder einer Partnerin aus dem Herkunftsland. Mehr als zwei Drittel haben Kinder, wobei die meisten ein oder zwei Kinder haben. Bei der Entscheidung für Deutschland spielt also nicht nur die eigene Situation eine Rolle, sondern auch die der Familie.

Kann Zuwanderung allein den Fachkräftemangel auffangen?

Das größte Potenzial sieht die Soziologin Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, in den 5,6 Millionen Frauen, die bisher nicht erwerbstätig sind. Heute seien Frauen genauso gut ausgebildet und motiviert wie Männer. Frauen stünden weiterhin vor dem Dilemma, Familie und Beruf unter einen Hut bekommen zu müssen. Allmendinger beklagt die alten Rollenmuster und fordert eine neue Unternehmenskultur: "Wir haben in Deutschland immer noch eine Anwesenheitskultur in den Betrieben und weinen der Normalarbeitsbiografie große Tränen nach." Für viele Frauen stelle gerade die Teilzeitarbeit eine Falle dar: Selten gelinge der weitere Aufstieg, und Weiterbildungsmöglichkeiten würden oft nicht angeboten. Frauen mit Führungsverantwortung gebe es kaum.

Gewerkschaften und Unternehmen sehen das ähnlich. Fördern will man auch jüngere und ältere Arbeitnehmer. So hat man zum Beispiel beim Chemiekonzern BASF ein entsprechendes Programm aufgelegt. Dieses Programm schließt ein Gesundheitskonzept ein sowie Qualifizierungsberatungen und Wertzeitkonten.