Interview

Interview zu Wowereits Rücktritt "Den richtigen Zeitpunkt erkannt"

Stand: 26.08.2014 14:59 Uhr

Eine überraschende, aber souveräne Entscheidung - Wowereit habe den richtigen Zeitpunkt für seinen Rücktritt gewählt, meint der Politikwissenschaftler Neugebauer im Interview mit tagesschau.de. Zuletzt habe ihm der Rückhalt in der eigenen Partei gefehlt.

tagesschau.de: Wie überraschend kommt dieser Schritt für Sie?

Gero Neugebauer: Dieser Rücktritt kommt sehr überraschend. Bisher hatte Wowereit immer erklärt, dass er im Jahr 2015 bekanntgeben will, ob er noch einmal kandidiert für das Amt des Regierenden Bürgermeisters.

tagesschau.de: Wie bewerten Sie den heutigen Auftritt des Regierenden Bürgermeisters vor der Presse?

Neugebauer: Der Auftritt hat deutlich gemacht, dass Wowereit souverän genug ist, einen Zeitpunkt zu wählen, an dem er sicher sein kann, dass er das Heft des Handeln noch in der Hand hat. Noch hat er die Deutungshoheit über die Rücktrittsgründe. Er hat klar auf das Dilemma mit dem Großflughafen Berlin-Brandenburg hingewiesen und Vermutungen bestätigt, dass ihm die Lage dort zusetzt. Er hat auf einen parteiinternen Erosionsprozess hingewiesen und demonstriert: 'Ich bestimme, wie lange ich im Amt bleibe'.

Zur Person

Gero Neugebauer studierte Politik- und Sozialwissenschaften. Bis 2006 unterrichtete er hauptamtlich am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Er war dort danach als Lehrbeauftragter tätig und arbeitet als politischer Publizist. Schwerpunkte seiner Forschung sind das deutsche Parteiensystem sowie Wahlen und Wahlverhalten.

tagesschau.de: Sie kennen ihn lange. Was könnte Wowereit noch zu seinem Schritt veranlasst haben?

Neugebauer: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen: die schlechten Umfragewerte für ihn und die Berliner SPD, die weit hinter der CDU liegt. Es gab massive Sticheleien aus der Landespartei. Auch wird in absehbarer Zeit kein Flugzeug vom neuen BER starten. Es gab Rückschritte beim Bürgerentscheid zum Flughafen Tempelhof und zu der von ihm dort geplanten Zentralbibliothek - kurzum: Die letzten Monate sind gepflastert mit Niederlagen und Rückschlägen.  

tagesschau.de: Nun hat Wowereit ja schon das ein oder andere Tief überstanden. Warum kämpft er nicht weiter?

Neugebauer: Wowereit ist ein Politiker, der immer vermittelt hat: Ihn scheren keine Umfragewerte und keine Kritik. Er bleibt so lange Bürgermeister, wie er Lust hat. Nun hat er offenbar die Lust verloren.

tagesschau.de: Was bedeutet der Rücktritt für die Bundes-SPD?  

Neugebauer: Wowereit konnte zwar immer noch als dienstältester Ministerpräsident herhalten, aber er hat in der Bundes-SPD sehr an Bedeutung verloren, nachdem er bei der letzten Wahl ein schlechtes Ergebnis eingefahren hat. Er konnte sich mit seinen Positionen in der Bundespartei kein Gehör mehr verschaffen.

tagesschau.de: Er war der prominenteste Parteilinke. Wer vertritt seine Positionen inzwischen?

Neugebauer: Diese Position ist an Ralf Stegner übergegangen, der aber nicht annähernd die gleiche mediale Aufmerksamkeit hat wie Wowereit. Eine kulturell ausgerichtete Linke in der SPD existiert derzeit de facto nicht.

tagesschau.de: Er wurde sogar mal als Kanzlerkandidat und möglicher Parteichef gehandelt. Wie ist der rasante Bedeutungsverlust zu erklären?

Neugebauer: Wowereit galt in der Bundespartei lange als nicht besonders linientreu. Er verfolgte eigene Ziele. Das hat vielen Parteigenossen nicht gefallen. Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 hat man die Partei intern umgebildet, aber Wowereit nicht wirklich berücksichtigt. Da war klar, dass er es mit möglichen Ambitionen schwer haben würde.

tagesschau.de: Wowereit wurde vom beliebtesten zu einem der unbeliebtesten Politiker - was ist da passiert?

Neugebauer: Bis vor kurzem galt Wowereit als der Politiker, der Berlin zu dem gemacht hat, was die Stadt heute ist: eine internationaler Touristenmagnet,  eine flippige, moderne und attraktive Metropole - arm aber sexy! Viele Werbeagenturen werden Wowereit noch lange um diesen Spruch beneiden. Jetzt hat ein Blickwechsel stattgefunden. Die Bevölkerung schaut nicht nur auf dieses Image und Wowereits Erfolge, sondern auf das, was alles nicht klappt. Und da spielt natürlich die Misere um den BER eine ganz gewichtige Rolle.

tagesschau.de: Was für ein Typus von Politiker ist Wowereit?

Neugebauer: Er versteht es blendend, auf die Leute zuzugehen, sich ihre Sorgen anzuhören und ihnen zu vermitteln, dass er einer von ihnen ist. Das hat ihm oft geholfen, wenn es um seine Partei schlecht bestellt war. Er kann sich sehr gut auf dem unterschiedlichen Parkett von Wirtschaft, Kultur und Event bewegen und dient als Integrationsfigur für sehr unterschiedliche soziale Gruppen und Schichten. Er hat damit lange ziemlich herausragend seine Rolle als Bürgermeister für alle Menschen dieser Stadt ausgefüllt.

"Er hat erkannt, wann es richtig ist, zurückzutreten"

tagesschau.de: Er hat mit Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder einiges gemeinsam. Beide sind keine Parteisoldaten, sind eigenwillig, hemdsärmelig, mit Ecken und Kanten. Hat sich dieser Typus von Politiker erledigt?

Neugebauer: Beide verstanden sich als so eine Art Volkstribun. Das ist ein Typ von Politiker, der es in Demokratien nicht leicht hat. Solche Politiker tun sich schwer, über Nachfolger nachzudenken und einen Maßstab an Selbstkritik zu entwickeln, die es ihnen erlauben würden, zu erkennen, wann der richtige Moment für den Rücktritt gekommen ist. Das aber muss man Wowereit lassen. Er hat erkannt, wann es richtig ist, zurückzutreten.

tagesschau.de: Und das unterscheidet ihn von Schröder, der ja nach der verlorenen Wahl 2005 im Fernsehen seine Niederlage leugnete.

Neugebauer: Das unterscheidet ihn von Schröder oder auch vom einstigen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, der damals erst zum Rücktritt bereit war, als man ihm dafür das Amt des Bundespräsidenten in Aussicht stellte. Viele Politiker muss man ja buchstäblich aus dem Amt heraustragen, wie den Ex-Verteidigungsminister und Fälscher Karl-Theodor zu Guttenberg.  

tagesschau.de: Was bleibt von Wowereit?

Neugebauer: Es bleibt kein zentrales Bauvorhaben, das man mit Wowereit verbinden kann: weder eine Zentralbibliothek noch ein funktionierender Großflughafen. Wowereit aber hat Berlin nach vorn gebracht und der Stadt Aufmerksamkeit in der Welt verschafft. Dass Berlin heute als Metropole so angesagt ist, das ist auch sein Verdienst.  

Wowereit hat 2001, als die Berliner SPD am Boden lag, mit Entschlossenheit und Souveränität das Ruder übernommen und die Partei 13 Jahre an der Macht gehalten. Das ist eine Leistung. Er hat Verkrustungen in der Gesellschaft aufgehoben und  mit seinem Satz 'Ich bin schwul, und das ist auch gut so!' eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Homosexualität etabliert, die vielen Politikern noch heute schwer fällt. Man muss schon ein echter Großstadttyp sein, um diese moderne Lässigkeit so überzeugend zu verkörpern.  

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de

T. Gabriel, ARD Berlin, 26.08.2014 15:58 Uhr