Polizeibeamte untersuchen den Tatort in Berlin-Moabit.

Nach "Tiergarten-Mord" Nervosität auf allen Ebenen

Stand: 14.12.2019 18:17 Uhr

Der Mord an einem Georgier in Berlin entwickelt sich zu einem Nervenkrieg: Kanzlerin Merkel pocht auf den Rechtsstaat, Putin agiert rüpelhaft. Der Druck liegt jetzt auf der Bundesanwaltschaft.

Von Michael Stempfle, ARD Berlin

"Ich bitte Sie um Hilfe für Selimkhan Khangoshvili", schrieb der Kaukasus-Experte und Menschenrechtler Ekkehard Maaß aus Berlin vor knapp drei Jahren an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Schon aus diesen Zeilen geht größte Nervosität hervor: Der tschetschenische Asylbewerber Kangoshvili werde "so massiv von der russischen Seite verfolgt, dass sein Leben in Gefahr ist", heißt es in dem Schreiben vom 13. Januar 2017, das dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt.

Zweieinhalb Jahre später, am 23. August dieses Jahres, ist der Tschetschene aus Georgien tot: am helllichten Tag erschossen in einem Berliner Park. Seit Anfang des Monats ermittelt nun die oberste deutsche Strafverfolgungsbehörde, die Bundesanwaltschaft. Ihr Anfangsverdacht: Staatliche russische oder tschetschenische Stellen könnten den Mord in Auftrag gegeben haben.

Ermittler am Tatort im Tiergarten

Ende August: Ermittler untersuchen den Tatort im Berliner Bezirk Moabit.

Tschetschenische Flüchtlinge in Angst

Bei den tschetschenischen Flüchtlingen in Deutschland liegen nun die Nerven blank. Viele fühlten sich massiv bedroht, erzählt Maaß. Dass die Tat nicht heimlich, still und leise stattfand, sondern in aller Öffentlichkeit, sei ein Signal an die Kritiker der russischen Führung: "Wir finden Euch, Ihr seid nirgendwo sicher."

Das befürchtet auch Zelimkhan Dokudaev, Leiter des deutsch-nordkaukasischen Kulturzentrums. Nach seinen Schätzungen leben rund 8000 Tschetschenen in Berlin und Umgebung. Viele hätten sich bis August in Deutschland sicher gefühlt und so einen Mord niemals für möglich gehalten, sagt er. Jetzt würden viele um Hilfe bei der Polizei bitten.

Der sogenannte Tiergarten-Mord entwickelt sich allerdings auch auf höchster politischer Ebene zu einem Nervenkrieg. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Bundeskanzlerin. Angela Merkels Strategie: Sie wählt zunächst eine niedrige Eskalationsstufe und hält sich die Option für weitere, höhere Eskalationsstufen zu einem späteren Zeitpunkt offen. So hat sie die russische Regierung bislang ausschließlich dafür kritisiert, nicht an der Aufklärung des Mordfalls mitgewirkt zu haben. Auch die Ausweisung von zwei russischen Botschaftsmitarbeitern gilt als moderat.

Regierung dementiert Putins Anschuldigungen

Zum Vergleich: Die britische Regierungschefin Theresa May hatte Moskau 2018 nach einem Mordversuch am Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter ein Ultimatum gestellt, Dutzende Botschaftsmitarbeiter ausgewiesen und von den internationalen Partnern sehr früh Solidarität eingefordert - noch bevor Beweise für einen staatlichen Auftragsmord öffentlich auf den Tisch gelegt werden konnten.

Auch auf russischer Seite scheint der Ärger um den "Tiergarten-Mord" an den Nerven zu zehren. Zumindest sah sich der russische Präsident Wladimir Putin beim Ukraine-Gipfel in Paris Anfang der Woche bemüßigt, sich zu der Affäre öffentlich zu äußern. Putins Taktik ist eine ganz andere als Merkels: Er überraschte in zweifacher Hinsicht, vermutlich sehr bewusst, und verlagerte die öffentliche Aufmerksamkeit vom Täter auf das Opfer.

Zum einen sei Khangoshvili nicht nur ein tschetschenischer Freiheitskämpfer, sondern ein Terrorist gewesen, der am Sprengstoffanschlag auf die Moskauer Metro 2010 beteiligt gewesen sein soll. Nach russischer Gesetzeslage ist Russland ermächtigt, Terroristen auch in anderen Ländern töten.

Putin erfindet Auslieferungsantrag

Maaß, der Khangoshivili in Berlin kennengelernt hat, hält es allerdings für ausgeschlossen und frei erfunden, dass Khangoshvili irgendetwas mit dem Attentat auf die Moskauer Metro zu tun gehabt haben könnte. Zum anderen habe Moskau laut Putin Berlin darum gebeten, Khangoshvili auszuliefern. Diese zweite Aussage hat das Auswärtige Amt inzwischen dementiert. Es habe kein Auslieferungsersuchen von russischer Seite gegeben.

Der Konflikt auf höchster politischer Ebene ist auch ein Wettstreit darum, ob sich Merkels Pochen auf Rechtsstaatlichkeit oder Putins rüpelhaftes Auftreten in der öffentlichen Wahrnehmung durchsetzt.

Verlegung von Vadim S. aus Kalkül?

Jetzt lastet der gesamten Druck auf Karlsruhe. Die alles entscheidende Frage ist: Kann die Bundesanwaltschaft neue Beweisen zu Tage fördern?

Im günstigsten Fall packt der mutmaßliche Täter Vadim S. aus. Für einen Profi-Killer ist das eher unwahrscheinlich. Genau in dieser brisanten Situation gelangt eine Recherche von ARD-Terrorismusexperte Michael Götschenberg an die Öffentlichkeit: Der mutmaßliche Auftragskiller sei in eine andere Haftanstalt verlegt worden. Der Grund: Der BND habe die Befürchtung, der mutmaßliche Täter Vadim S. könnte in der Haftanstalt gezielt getötet werden, um ein Geständnis zu verhindern. Der BND habe einen entsprechenden Hinweis erhalten.

Spätestens jetzt hat der Nervenkrieg den mutmaßlichen Mörder erreicht. Wem gegenüber soll sich Vadim S. solidarisch verhalten - seinen möglichen Auftraggebern oder doch dem deutschen Staat, der sein Leben schützen will?

Vielleicht mache es ihn gesprächiger in Bezug auf seine Hintermänner, meint Christopher Nehring, Geheimdienstexperte und wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Spionagemuseums in Berlin, das den Tiergartenmord bereits in seine Ausstellung mit aufgenommen hat. Es sei also denkbar, dass hinter der Verlegungsaktion ein Stück weit Kalkül stecke.

"Wir leben in ungemütlichen Zeiten"

Spionage, Auftragsmorde, Hintermänner - all das klingt nach Kaltem Krieg, der nach dem Fall der Mauer eigentlich überwunden schien. Doch der Schein trügt: Die Phase der Entspannung sei für Deutschland vorbei, heißt es bei Innenexperten im Bundestag.

Viele Staaten versuchten derzeit, eine Vormachtstellung in der Welt zu erlangen, sagt etwa Patrick Sensburg von der CDU. Um im neuen Machtgeflecht eine bessere Position zu erlangen, ließen manche auch die Grenze zum kriminellen Vorgehen verschwimmen.

"Wir leben in ungemütlichen Zeiten", ergänzt Konstantin von Notz von den Grünen. Manche Staaten verfolgten "eine mehr als robuste und problematische Politik". In jedem Fall brauche Deutschland aber endlich eine schlagkräftige Gegenspionage und Spionageabwehr, finden zahlreiche Innenexperten - und auch der Geheimdienstexperte Nehring.

Nur so lasse sich der Nervosität, die sich derzeit auf allen Ebenen breitmacht, entgegentreten.

Der Tiergartenmord ist Thema im Bericht aus Berlin mit Tina Hassel. Dazu live im Studio: Innenexperte der Union Armin Schuster.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 04. Dezember 2019 um 20:00 Uhr.