André Brodocz
interview

Politikwissenschaftler zu Thüringen "Politisch naiv oder völlig unwissend"

Stand: 06.02.2020 11:31 Uhr

Der Rücktritt Kemmerichs als Ministerpräsident ist angesichts des Drucks aus Berlin eine Frage der Zeit, erwartet Politikwissenschaftler Brodocz. Das Vorgehen der FDP hält er für nicht nachvollziehbar. Neuwahlen könnten die Lage ändern.

tagesschau.de: Der Druck auf Kemmerich ist groß. Der neue Ministerpräsident selbst weist Forderungen nach einem Rücktritt aber vehement zurück. Kann er das durchhalten?

André Brodocz: Die ersten Tage kann und wird er das durchhalten. Es wäre ja völlig peinlich, sich gestern wählen zu lassen und heute schon zurückzutreten. Allein deshalb wird er die nächsten Tage und vielleicht auch noch die nächsten Wochen im Amt bleiben. Die öffentliche Diskussion - das sehen wir auf der Bundesebene - spricht nicht für ihn. CDU- und FDP-Bundesverband haben deutliche Signale ausgesandt, dass es doch auf Neuwahlen hinauslaufen soll. Wie lange er sich dem entziehen kann, ist momentan nicht genau abzuschätzen: Aber es ist nur eine Frage der Zeit.

Prof. Dr. André Brodocz, Politikwissenschaftler
Zur Person

André Brodocz ist Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt. Zu seinen Schwerpunkten gehören Demokratietheorie und Deutungsmacht. Er hat sich in mehreren Veröffentlichungen mit der politischen Situation in Ostdeutschland befasst.

"Öffnung zur AfD programmatisch unvereinbar mit FDP"

tagesschau.de: FDP-Chef Lindner soll heute nach Erfurt kommen, war aber selbst, wie Kemmerich sagt, komplett eingebunden. Wie erklären Sie sich das?

Brodocz: Das hat mich gestern in der Tat überrascht: Die erste Stellungnahme von Christian Lindner war ja sehr knapp. Er gratulierte, wünschte starke Nerven und stellte es als Thüringer Angelegenheit dar. Und später sagte er dann, man müsse schauen, ob man eine Regierung bilde mit der CDU, der SPD und den Grünen. Wenn das nicht gelänge, stünden Neuwahlen an. Auch das hat mich überrascht. Denn so eine Regierung wäre auch eine Minderheitsregierung gewesen - und noch dazu eine, die die Kooperation sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite ausgeschlossen hat. Man hätte also auch gar nicht in dieser Konstellation regieren können. Wie man sich vor diesem Hintergrund darauf einlassen konnte, das ist für mich in der Tat sehr schwer nachvollziehbar aus der Perspektive der Bundes-FDP.

tagesschau.de: Hat die FDP die Wirkung der Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD unterschätzt?

Brodocz: Man hat fast den Eindruck, auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Wir haben es hier wirklich mit erfahrenen Politikerinnen und Politikern zu tun, die die öffentliche Debatte um Regierungsbeteiligungen und Tolerierungen durch die AfD kennen. Die kennen alle auch ihr eigenes Parteiprogramm. Die FDP als Verteidigerin der Bürgerrechte, als Verteidigerin von Minderheiten öffnet sich an dieser Stelle für die Kooperation mit einer Partei, die dort andere Vorstellungen hat. Dass das programmatisch vereinbar erscheint, ist schwer nachvollziehbar. Und dass man sich jetzt darauf zurückzieht, das sei eine geheime Wahl und man wisse nicht, wer mitgewählt hat und nicht erkennt, dass das auch eine Form von Kooperation ist, erscheint entweder politisch naiv oder eben völlig unwissend. Man weiß gar nicht, was da die bessere Interpretation ist.

"Mohring wollte in irgendeiner Form in die Regierung"

tagesschau.de: Der CDU-Landeschef Mohring fiel nach der Wahl durch einen Schlingerkurs auf. Ist in der Thüringer CDU die Bereitschaft, mit der AfD zusammenzuarbeiten größer als auf Bundesebene?

Brodocz: Man muss einmal trennen zwischen der Fraktion und dem Vorsitzenden. Mohring macht tatsächlich den Eindruck, dass es ihm nach der Wahl darum ging, in irgendeiner Form an der Regierung beteiligt zu sein. Deswegen zuerst der Schwenk nach links. Als ihm dort der Gegenwind im Land wie im Bunde entgegenkam, hat er sich dann in eine Position begeben, die vermeintlich offen schien auch für andere Varianten. Und am Ende hat er sich jetzt eingelassen auf eine Minderheitsregierung, in die er dann als Minister einzieht einer Fraktion, die viermal so groß ist wie die der FDP, die wiederum mit einem Fünf-Prozent-Wahlergebnis den Ministerpräsidenten stellt. Man muss schon sehr darauf abgezielt haben, hier ein Ministeramt zu erlangen.

Die Fraktion schien im Vorfeld eher gespalten: Mohring bekam bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden nur zwei Drittel der Stimmen. Die Diskussionen haben gezeigt, dass die eine Hälfte der Fraktion stärker zu einer Öffnung der Partei zur Linkspartei, die andere Hälfte eher zu einer Öffnung zur AfD tendierte. Dass die dann in der Tat im dritten Wahlgang so geschlossen Kemmerich gewählt haben - mit ganz wenigen Abweichlern - war schon sehr überraschend und man wäre gerne Mäuschen in den Beratungen vor dem dritten Wahlgang gewesen.

tagesschau.de: Wie kann Kemmerich aus dem Dilemma nun rauskommen?

Brodocz: Er kann gar nicht aus dem Dilemma herauskommen. Es müsste ihm, wie auch immer, ein Befreiungsschlag gelingen mit einer Regierungsmannschaft, die tatsächlich Bewegung in die anderen Fraktionen bringt. Es müssten tatsächlich "Experten" sein, Parteilose. Ob die sich aber vor dem Hintergrund dieser Ministerpräsidentenwahl darauf einlassen, wage ich doch sehr zu bezweifeln. Und wenn ihm das nicht gelingt, wird er kein Personalangebot haben, das ihm in irgendeiner Form aus dem Dilemma hilft. Und dann wird er irgendwann genötigt sein, die Vertrauensfrage zu stellen und wir laufen auf Neuwahlen zu.

tagesschau.de: Kemmerich selbst, aber auch Stimmen aus der CDU wie Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, machen Bodo Ramelow mitverantwortlich, weil er versucht hat, eine Mehrheit im Landtag zu bekommen, obwohl es die Mehrheitsverhältnisse nicht hergaben. Wie sehen Sie das als Politikwissenschaftler?

Brodocz: Die CDU und die FDP haben auch keine Mehrheiten. Wie man jetzt anderen Parteien vorwerfen kann, sie wollten eine Minderheitsregierung bilden, wo man selbst eine bilden will - das ist eine dieser Paradoxien der letzten Tage, die ich nicht nachvollziehen kann.

"Wähler wissen jetzt, wer mit wem koalieren würde"

tagesschau.de: Auch Neuwahlen könnten - letzten Umfragen zufolge - eine ähnliche Pattsituation herbeiführen. Was dann?

Brodocz: Die Umfragen waren ja alle vor der gestrigen Wahl. Und nach der gestrigen Wahl wissen die Wählerinnen und Wähler, wer in Thüringen bereit ist, mit wem zu koalieren. Und insofern glaube ich schon, dass wir in den nächsten Wochen noch Bewegungen in den Wahlabsichten der Thüringer Wählerinnen und Wähler bekommen werden. Und vielleicht in der Konsequenz auch dann andere Mehrheitsverhältnisse.

Das Gespräch führte Caroline Ebner, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 06. Februar 2020 um 12:21 Uhr in der Sendung "Informationen am Mittag".