Jonas Schmidt-Chanasit (Archivbild 2014)
Interview

Virologe zu Corona-Lockerungen Mehr Tests, weniger pauschale Maßnahmen

Stand: 25.05.2020 17:12 Uhr

Lockerungen wie etwa in Thüringen sind nach Ansicht des Virologen Schmidt-Chanasit eine Chance, wichtige Daten zu generieren. Im tagesschau.de-Interview mahnt er aber auch: Dann brauche es andere, zielgerichtete Maßnahmen.

tagesschau.de: Was halten Sie denn von der angekündigten Aufhebung landesweiter Corona-Beschränkungen in Thüringen?

Jonas Schmidt-Chanasit: Klar ist, dass wir das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben dürfen. Das kann nämlich sehr schnell passieren. Stellen Sie sich einfach vor, wir hätten jetzt fünf oder sechs Superspreader-Events wie beim Gottesdienst in Frankfurt oder dem Restaurant in Leer. Dann kann das ganz schnell aus dem Ruder laufen.

Insofern ist es ganz wichtig, immer handlungsfähig zu bleiben. Das bleibt man, indem man zum Beispiel viele Tests macht, auch bei einem geringen Infektionsgeschehen, um früh und schnell darauf reagieren zu können. Da würde es sich zum Beispiel anbieten, entsprechende Surveillance-Testungen in Kitas, Schulen, Krankenhäusern oder Altenheimen regelmäßig durchzuführen, um sofort, wenn dort Fälle auftreten, die auch gar nicht erkrankt sind - die stille Ausbreitung ist ja ein kritischer Faktor -, frühzeitig entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

Zur Person

Jonas Schmidt-Chanasit, Jahrgang 1979, studierte Medizin an der Berliner Charité und leitet am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin die Abteilung für Arbovirologie. Seit 2018 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Arbovirologie an der Universität Hamburg.

Auf regionales Geschehen spezifisch eingehen

tagesschau.de: Also eine vertretbare Entscheidung?

Schmidt-Chanasit: Prinzipiell finde ich es nicht schlecht, dass man auf regionales Geschehen spezifischer eingeht. Das ist okay, gerade wenn Sie jetzt vielleicht Landkreise haben, wo zwei, drei Monate keine Neuinfektion aufgetreten ist. Dann ist es schwierig, die Beschränkungen den Leuten vor Ort länger zu vermitteln. Wir sind ja immer auf die Mitarbeit der Menschen angewiesen. Das sieht man auch bei den Masken, wo man immer darum kämpfen muss, dass die auch richtig verwendet werden. Hier muss man insbesondere darauf achten, dass die in Situationen, wo es wirklich notwendig ist, korrekt verwendet werden. Also eine zeitlich und örtlich begrenzte Maßnahme, die dann aber richtig umgesetzt werden muss und nicht zu einer Alibi-Maßnahme verkommt.

Wenn ich etwa alleine am Bahnsteig stehe, macht Maske tragen keinen Sinn. Das ist eine Vergeudung wertvoller Ressourcen. Insofern muss es hier zielgerichtet sein. Das heißt, wenn ich regional ein starkes Infektionsgeschehen habe, dann macht es auf jeden Fall Sinn, diese strengen Maßnahmen breiter durchzusetzen. Das muss aber jetzt genau definiert werden. Ich habe noch nicht gesehen, was letztendlich in Thüringen und auch in Sachsen beschlossen werden soll. Man kann bestimmte Lockerungen zulassen, aber man sollte tunlichst vermeiden, von einem Normalzustand wie vor der Pandemie zu sprechen. Davon sind wir sicherlich weit entfernt. Das Virus ist nach wie vor da.

Ich kann es nur wiederholen: Das Schwierige an dem Virus ist die stille Ausbreitung - das heißt, man merkt es eigentlich immer erst, wenn ein Mensch erkrankt oder sogar schwer erkrankt. Dann hat sich das Virus aber schon weiter verbreitet - unbemerkt, weil viele Menschen nicht erkranken und das Virus auch von Nicht-Erkrankten weitergegeben wird.

Massentests in Schulen oder Altenheimen notwendig

tagesschau.de: Sie sagten, man müsste viel testen. Bislang wird ja in der Regel nur getestet, wenn es schon Symptome gibt. Das müsste sich dann ändern, oder?

Schmidt-Chanasit: Ja, das müsste sich auf jeden Fall ändern. Das ist vielleicht auch das Ansinnen von Thüringen: Dass man von den allgemeinen, drastischen Maßnahmen zu intelligenten, zielgerichteten Maßnahmen kommt. Dazu zähle ich unter anderem die Tracing-App. Dazu zähle ich, dass man beispielsweise in zehn Prozent aller Schulen, aller Kindergärten, Krankenhäuser oder Pflegeheime - also dort, wo es wichtig werden könnte - regelmäßig testet.

Wir haben in den letzten Wochen gelernt, dass auch Speichel getestet werden kann, also müssen keine Abstriche mehr durch Fachkräfte genommen werden. Das könnte man alles etablieren, die Diagnostik-Kapazitäten sind ja mittlerweile ausreichend. Die Finanzierung ist meines Erachtens auch durch Gesundheitsminister Jens Spahn geklärt oder kann durch die Länder übernommen werden. Man kann für Deutschland intelligente und zielgerichtete Maßnahmen entwickeln, die eine Lockerung in anderen Bereichen ermöglichen.

Geld für mehr Freiheit nötig

tagesschau.de: Solche PCR-Tests aus Speichel sind ja relativ teuer. Die Krankenkassen zahlen dafür 59 Euro ...

Schmidt-Chanasit: Die Frage ist: Wollen wir Geld für mehr Freiheit aufwenden? Dann müsste man das so machen, dann hat man einen Überblick. Das kann man auch nochmal dem aktuellen Infektionsgeschehen anpassen. Das muss genauer ausdiskutiert werden, ob das zehn oder 20 Prozent sind. Da müssen kluge Epidemiologen mal berechnen, was sinnvoll ist, damit man ein frühes Warnsignal hat, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Klar ist, die zielgerichteten Maßnahmen kosten Geld. Aber dafür kann man im Gegenzug die pauschalen Maßnahmen, die ja auch öfters in Frage gestellt werden und gegen die auch viele auf die Straße gehen, anpassen.

Jetzt müssen Daten generiert werden

tagesschau.de: Wie oft müsste man aus Virologensicht solche Tests durchführen? Einmal pro Woche, alle drei Tage?

Schmidt-Chanasit: Das kann man so pauschal nicht sagen. Das kommt darauf an, wieviel Geld man einsetzen will. Natürlich so oft es geht, aber das wäre wohl nicht bezahlbar und nicht realistisch. Insofern muss man sich zusammensetzen und schauen, ob man es zum Beispiel wie in einem Reihenversuch macht - dass nicht jede Kita jede Woche dran ist oder eben nur zehn Prozent und die dann jede Woche wechseln. Da gibt es ganz viele Modelle, das kann man sich überlegen.

Außerdem muss man deutlich unterscheiden zwischen Kitas, Schulen, Alten- und Pflegeheimen. Wir gehen davon aus, dass die Coronavirus-Infektion für Kinder zu keiner schwerwiegenden Erkrankung führt. Das sagen fast alle Virologen. Offen ist, ob Kinder zur Verbreitung entscheidend beitragen. Da ist die Datenlage differenzierter. Ein Teil der Kollegen sagt: Nein, es deutet eher darauf hin, dass Kinder unter zehn Jahren bei der Verbreitung keine große Rolle spielen. Andere sehen das anders.

Deshalb wäre es so wichtig, gerade jetzt die Daten zu generieren. Das ist eine einmalige Chance, weil so wenig Infektionen stattfinden. Wenn nicht jetzt, wann können wir dann diese Lockerungen umsetzen - gepaart mit intelligenten Maßnahmen, um genau zu erfahren, welchen Einfluss diese Lockerungen auf die Entwicklung der Infektionszahlen haben. Denn wenn die zweite Welle kommt, dann kann man so etwas nicht umsetzen.

Lockerungen führen nicht sofort zu mehr Infektionen

tagesschau.de: Wenn etwa bald kein Mund-Nasen-Schutz mehr getragen wird: Fürchten Sie, dass es deutlich mehr Infektionen geben wird?

Schmidt-Chanasit: Das kann man pauschal nicht so sagen. Zu schlussfolgern, nur weil Maßnahmen gelockert werden, kommt es zu einer zweiten Welle oder einem zweiten Anstieg - das ist zu einfach gedacht. Das haben wir ja in den vergangenen Wochen gesehen. Viele Kollegen erwarteten dadurch einen Anstieg. Dieser Anstieg ist nicht erfolgt, nach allem, was wir jetzt sehen. Insofern wäre ich sehr vorsichtig mit der Schlussfolgerung, dass Lockerungen sofort zu einem Anstieg führen.

Das Interview führte Dominik Lauck, tagesschau.de

Das Interview führte Dominik Lauck