Hintergrund

Hohe Arzneimittelpreise, hohe Umsätze Pillenparadies für die Pharmabranche

Stand: 18.02.2010 20:11 Uhr

Das Geschäft mit der Gesundheit brummt und beschert der Pharmaindustrie hohe Umsätze. Nach einem Treffen mit der Branche kündigte Gesundheitsminister Rösler Maßnahmen gegen die hohen Arzneimittelpreise an. tagesschau.de erklärt, warum der deutsche Markt für die Pharmahersteller so attraktiv ist.

Von Wenke Börnsen, tagesschau.de

Ein Zufall namens Viagra: Ursprünglich forschte der Pharmakonzern Pfizer Mitte der 90er-Jahre nach einem neuen Herzmittel. Wegen erwiesener Wirkungslosigkeit wollte man das Projekt schon einstellen, bis ein Arzt die interessante Nebenwirkung feststellte. So wurde aus dem Herzmittel ein Potenzmittel. Und ein Blockbuster: Viagra legte seit der Markteinführung 1998 eine steile Karriere hin. 2008 lag der Umsatz bei umgerechnet rund 1,3 Milliarden Euro.

Deutschlands oberster Pharmakontrolleur Peter Sawicki hält die meisten echten Fortschritte in der Medizin für Zufallsfunde. "Insulin, Antibiotika, Viagra - das waren alles Zufälle", sagt er im Gespräch mit tagesschau.de. Eine Ausnahme sieht Sawicki nur bei den Aids-Medikamenten. "Hier wird systematisch und mit einem Riesenaufwand geforscht."

"Arzneimittelforschung ist kein einfaches Geschäft"

"Viagra war ein echter Glücksfall für Pfizer", sagt Wolfgang Becker-Büser, Mediziner und Herausgeber der pharmakritischen Monatszeitschrift "Arznei-Telegramm" im Gespräch mit tagesschau.de. Der Wirkstoff in Viagra sei relativ billig zu produzieren. Auch der Entwicklungsaufwand für Viagra sei vergleichsweise gering gewesen. "Der Preis für ein Medikament hat nichts mit den Produktions- und Entwicklungskosten zu tun", stellt Becker-Brüser klar. "Die Hersteller verlangen, was der Markt hergibt."

Der durchschnittliche Entwicklungsaufwand für ein neues patentgeschütztes Medikament liegt irgendwo zwischen unter 100 und mehr als 800 Millionen Dollar - je nachdem, wen man fragt. Der Verband der forschenden Pharmahersteller nennt eine durchschnittliche Entwicklungszeit von zwölf Jahren für ein Medikament von der Idee bis zur Zulassung und eine Summe von 800 Millionen Dollar.

Und längst nicht jedes Projekt wird zum Erfolg: "Bevor man mit Medikamenten Geld verdient, muss man sehr viel Geld investieren und von 10.000 Projekten kommt nur eines als Medikament zum Patienten", sagt Verbandssprecher Jochen Stemmler gegenüber tagesschau.de. "Arzneimittelforschung ist kein einfaches Geschäft." Und eines mit Risiken und Nebenwirkungen: 2001 musste der Bayer-Konzern seinen Cholesterinsenker Lipobay wegen tödlicher Nebenwirkungen vom Markt nehmen, verlor Milliarden und fast seinen guten Ruf. Drei Jahre später wurde das Schmerzmittel Vioxx für den US-Pharmahersteller Merck zum Desaster.

Apotheker zieht eine Spritze auf

100 bis 800 Millionen Dollar kostet die Neuentwicklung eines Medikaments.

Patentschutz - Lizenz zum Gelddrucken

Wird ein Präparat aber neu zugelassen - im Schnitt sind das 30 Medikamente pro Jahr in Deutschland - steht es  rund 15 Jahre unter Schutz. Dieser Patentschutz ist eine Lizenz zum Gelddrucken. "Wenn ein Medikament gut ist, ist hoher Gewinn gerechtfertigt", sagt Ulrich Schwabe im Gespräch mit tagesschau.de. Der Heidelberger Pharmakologe ist Autor des Arzneiverordnungs-Reports, einer jährlichen Analyse der Entwicklung der Arzneimittelkosten. Für nicht gerechtfertigt hält Schwabe allerdings die Praxis vieler Hersteller, Analogpräparate als Innovationen zu vermarkten. Analogpräparate sind Mittel mit keinem oder nur marginalen Unterschieden zu Arzneimitteln, die bereits auf dem Markt sind. "Diese Pseudo-Innovationen sind immer schwindelerregend teurer als das, was schon auf dem Markt ist", kritisiert Schwabe.

Ein Beispiel: der Cholesterinsenker Inegy. "Es gibt keine überlegene Wirkung, doch Inegy ist 13 Mal teurer als die Standardtherapie." Die Folge: der neue, aber nicht bessere Cholesterinsenker Inegy bescherte dem Hersteller MDS laut Arzneiverordnungs-Report 2008 allein in Deutschland rund 172 Millionen Euro Umsatz. "152 Millionen Euro hätten die Kassen mit einem Generikum einsparen können", rechnet Schwabe vor.

Hoher Preis, hoher Umsatz

Das Geschäft mit den patentgeschützten Analogpräparaten ist also enorm lukrativ - vor allem in Deutschland: Denn auf dem nach den USA und Japan drittgrößten Pharmamarkt der Welt herrschen paradiesische Bedingungen: Für patentgeschützte Medikamente dürfen die Hersteller in den meisten Fällen den Preis frei bestimmen.

Entsprechend hoch ist der Umsatz: 2008 lag er laut Arzneiverordnungs-Report bei 5,1 Milliarden Euro. Die Kosten tragen die Kassen und damit die Versicherten. Das Einsparpotenzial bei patentgeschützten Analogpräparaten beziffert Schwabe auf 1,7 Milliarde Euro. Zum Vergleich: In diesem Jahr fehlen den gesetzlichen Krankenkassen rund vier Milliarden Euro.

Die Untersuchungen des Marktforschungsinstituts IMS Health belegen die Belastungen der Kassen durch die patentgeschützten Arzneimittel insgesamt. Von Januar bis November 2009 mussten die Kassen demnach 9,14 Milliarden Euro für patentgeschützte Medikamente ausgeben, das sind 15 Prozent mehr als 2008. Die Summe entspricht demnach 35 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben. Sie machen aber nur einen Anteil von 8,2 Prozent aller Medikamente aus, die die Kassen zahlen mussten.

Preisbremse fehlt, Kosten steigen, Kassen zahlen

Dabei belasten die Kassen auch die überdurchschnittlich hohen Arzneimittelpreise. Denn für patentgeschützte Arzneimittel verlangen die Hersteller in Deutschland erheblich mehr als in allen anderen europäischen Ländern und den USA - eine Folge der fehlenden Preisbremse.

So ist im Arzneiverordnungs-Report nachzulesen, dass das Rheuma-Mittel Humira in Deutschland doppelt so viel kostet wie bei den europäischen Nachbarn. Das Medikament Betaferon, angewandt bei Multipler Sklerose, kostet in Deutschland rund 4200 Euro pro Quartal, in Italien nur 2450. Das Rheumamittel Humira, mit dem das Unternehmen Abbott drei Viertel seines Umsatzes macht, kostet in Deutschland 1900 Euro, in Schweden 1100 und in England 800 Euro (jeweils die Monatsdosis von zwei Spritzen). "Solange wir keine Preisfestlegung haben, steigen bei uns die Kosten weiter", sagt Schwabe. Das sieht der Vorstandschef der KKH-Allianz genauso und schlägt Alarm: "Ein und dasselbe Medikament ist in Deutschland zum Teil mehr als 1000 Euro teurer als im europäischen Ausland", beklagt Ingo Kailuweit gegenüber tagesschau.de.

Arzneimittelkontrolleur Sawicki warnt angesichts dieser Zahlen davor, die neuen teuren patentgeschützten Produkte pauschal zu verdammen. "Teure Medikamente sind nicht unbedingt unwirtschaftlich." Wenn sie Menschen heilten oder dafür sorgten, dass ein Patient früher aus dem Krankenhaus entlassen werden könne, sparten sie ja auch Kosten. Aber: "Im Moment können die Firmen jeden Pseudo-Fortschritt zum medizinischen Durchbruch erklären und werden dafür finanziell belohnt." Auch von Seiten der Pharmabranche wird  - wenn auch nicht öffentlich - zugegeben, dass nicht jedes Präparat sinnvoll ist. "Die Pharmafirmen forschen nicht nach Fortschritt, sondern nach Umsatz", stellt Sawicki fest.