Ritalin - Gehirn-Doping oder notwendige Therapie? Pillen für den Zappelphilipp

Stand: 09.08.2007 10:52 Uhr

Die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität (ADHS) bei Kindern ist ebenso verbreitet wie umstritten. Besonders wenn es um die oft verordnete Therapie mit dem Medikament Ritalin geht. Viele halten sie für notwendig, um Betroffenen das Leben zu erleichtern. Andere sagen: Das ist Gehirn-Doping, um Kinder auf Leistung zu trimmen.

Von Yasemin Ergin, tagesschau.de

Drei bis sechs Prozent aller Kinder in Deutschland leiden an einem Phänomen, bei der Uneinigkeit herrscht, ob es tatsächlich eine Krankheit ist: das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), das so genannte Zappelphilipp-Syndrom. ADHS-Kinder sind hyperaktiv, können sich nicht konzentrieren und haben Probleme in der Schule und in ihrem sozialen Umfeld. Neu ist das Phänomen nicht. Schon im Kinderbuch-Klassiker "Struwwelpeter" treibt der Zappelphilipp seine Eltern zur Verzweiflung und auch Astrid Lindgrens "Michel aus Lönneberga“ weist typische Symptome auf: unbedachtes Handeln, ausgeprägte Trotzreaktionen und unberechenbares Sozialverhalten.

Die Diagnose ADHS kann Trost für verzweifelte Eltern bieten: Nicht falsche Erziehung oder mangelnde Fürsorge, sondern eine Stoffwechselstörung im Gehirn sollen dafür verantwortlich sein, dass das Kind so viel Stress macht und ständig unangenehm auffällt.

Hilfe verspricht eine medikamentöse Therapie: Zur Behandlung von ADHS werden Stimulanzien eingesetzt, die den Stoffwechsel im Gehirn beeinflussen. Dazu gehören Methylphenidat und Amphetaminderivate. Das bekannteste Mittel heißt "Ritalin". Das Medikament des Arzneiherstellers Novartis wird Millionen von so genannten Zappelphilipp-Kindern verordnet. Die Pillen verbessern die Konzentrationsfähigkeit und das räumliche Vorstellungsvermögen und sorgen dafür, dass Kinder ruhiger und angepasster werden.

Erfolg und Konzentration auf Rezept

Die Therapie ist jedoch äußerst umstritten. Der Wirkstoff Methylphenidat unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz, denn Ritalin hat in seiner chemischen Zusammensetzung Ähnlichkeit mit Kokain. Die Langzeitwirkungen des Medikaments sind noch nahezu unerforscht, die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit gilt generell als hoch.

Kritiker betonen besonders die moralisch-ethischen Aspekte. Überspitzt formuliert: Kindern, die nicht einwandfrei funktionieren und den gesellschaftlichen Anforderungen an Leistung und Anpassungsfähigkeit nicht genügen, werde eine Krankheit suggeriert. Dann würden die Betroffenen mit chemischen Mitteln auf Erfolg und Konformität getrimmt.

Der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann gehört zu den entschiedensten Kritikern der medikamentösen ADHS-Therapie. Die Gefahr sei groß, dass Ritalin und andere Ruhigsteller die Hyperaktivität "chronifizierten". An der Grunderkrankung jedoch ändere sich nichts, so Bergmanns Ansicht. Manche Kritiker gehen so weit, ADHS als eine Modekrankheit zu bezeichnen, welche von der Pharmaindustrie konstruiert wurde, um neue Abhängigkeiten und Absatzmärkte zu schaffen.

Einigkeit besteht aber darin, dass Ritalin in besonders schweren Fällen tatsächlich helfen kann. Andreas Leiteritz, Facharzt für Psychotherapie an der Klinik Lüneburger Heide, gehört zu den Verfechtern der Ritalin-Therapie. Dass Ritalin immer häufiger verschrieben werde, habe nichts mit Leichtfertigkeit oder dem sich ständig steigernden Leistungsdruck in der Gesellschaft zu tun, sondern schlicht mit den verbesserten Diagnosemöglichkeiten für ADHS, so Leiteritz. Eine medikamentöse Therapie werde in der Regel nur bei Kindern empfohlen, deren Hyperaktivität mindestens zwei Lebensbereiche beeinträchtige. Bei Kindern, die nur in der Schule Probleme haben, aber zu Hause und im Freundeskreis gut klarkommen, werde kaum ein Arzt eine Medikation empfehlen, sagt Leiteritz. Ein Verzicht auf Ritalin bei ernsthaft Betroffenen sei jedoch unverantwortlich, da man so Kindern mit normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz die Möglichkeit verbaue, sich ihrem Potenzial entsprechend zu entwickeln und Kinder und Eltern unnötigem Leid aussetze.

Neue Modedroge für Schüler und Studenten?

Nach Angaben der Bundesopiumstelle stieg der Ritalin-Verbrauch in den vergangenen zehn bis 15 Jahren um fast 300 Prozent.Tatsächlich ist Ritalin relativ leicht zu beschaffen und stellt ein typisches Beispiel für das Phänomen des "Gehirn-Dopings“ dar - der medikamentösen Optimierung von eigentlich gesunden Menschen.

In den USA gilt Ritalin bereits als Modedroge unter Jugendlichen. Etwa zehn Prozent aller Studenten geben an, das Mittel regelmäßig zur Leistungssteigerung einzunehmen. Auch in Deutschland ist die Tendenz steigend. Von Verhältnissen wie in den USA ist man zwar noch weit entfernt, aber auch in deutschen Schulen wird Ritalin längst unter Jugendlichen getauscht.