Interview

Interview mit Necla Kelek (Teil 2) "Wir müssen mit der falschen Toleranz aufhören"

Stand: 24.08.2010 18:51 Uhr

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Teil 2 des Interviews

tagesschau.de: Auch die Intellektuellen, gerade die Linken und Liberalen, müssen sich von Ihnen harte Worte anhören. Sie werfen ihnen vor, mit der Ideologie einer multikulturellen Gesellschaft der Integration keinen Dienst erwiesen zu haben. Warum?

Kelek: Es ist gut, dass jeder seine Kultur haben darf. Aber es wird nicht genau genug hin geschaut, was viele Eltern im Namen der Kultur mit ihren Kindern machen. Die Auslegung des Islam ist eine sehr subjektive Sache, es gibt dafür keine Regeln. Der eine Vater legt den Koran so aus, der andere so. Auch die Imane mischen sich da nicht ein. Und so bleiben die Kinder schutzlos der Willkür des Vaters überlassen. Und oft stehen diese Väter unter dem Einfluss von Fundamentalisten. Das lässt sich mit dem Demokratieverständnis unseres Landes nicht vereinbaren.

tagesschau.de: Kann das Zuwanderungsgesetz helfen, damit Migranten und Deutsche enger zusammenwachsen?

Kelek: Ich habe ein Gesetz vorgeschlagen, um die Praxis der Importbräute zu stoppen. Denn über diese Form der Familienzusammenführung, über die Verheiratung der Kinder, wird die türkische Parallelgesellschaft immer weiter ausgebaut. Praktisch sieht das so aus: Ein 18 oder 19 Jahre alter Sohn wird mit einem Mädchen verheiratet, das aus dem Heimatdorf der Familie geholt wurde. Oft ist sie seine Cousine, vielleicht kann sie ein bisschen lesen und schreiben - vielleicht aber auch nicht.

Ich setze mich dafür ein, ein Mindestalter für diesen Zuzug festzusetzen. Man könnte zum Beispiel sagen, erst mit 22 Jahren kann ein Mädchen nach Deutschland nachreisen. Damit würde man diesem Brauch einen Riegel vorschieben, denn eine 22-Jährige hat vielleicht schon einen Beruf, lässt sich nicht mehr alles gefallen. Damit ist sie ist für die Familie nicht mehr attraktiv.

Nicht länger vor den Fundamentalisten kuschen

tagesschau.de: Es gibt auch viele Migranten, die sich in die Gesellschaft integriert haben, zum Beispiel in Parteien oder Verbänden aktiv sind. Diese werden von ihnen aufgerufen, „endlich den Mund aufzumachen und am demokratischen Prozess teilzunehmen. Was fordern Sie genau?

Kelek: Die türkischen Demokraten müssen viel genauer hinsehen, was in den Gemeinden geschieht und sie müssen darauf hinwirken, dass auch die Türken die deutsche Gesellschaft als ihre akzeptieren. Sie sollen nicht länger vor den Fundamentalisten kuschen. Vor allem dürfen Kinder nicht daran gehindert werden, an der deutschen Gesellschaft teilzunehmen. Das tun aber viele Eltern.

tagesschau.de: Es gibt eine neue Studie der Familienministerin, aus der deutlich wird, dass viele türkische Mädchen sehr bildungsorientiert sind. Tatsächlich schneiden Kinder von Migranten in der Schule oft sehr schlecht ab. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

Kelek: Wenn sie türkische Eltern fragen, sagen alle: Ich möchte unbedingt, dass mein Kind studiert. Aber sie tun nichts dafür. Später wundern sie sich dann, dass das Kind nicht mitkommt und aufgibt. Stattdessen sehen die Eltern sehr streng darauf, dass ihre Kinder in die Koranschule gehen, religiös werden und gehorchen. 40 Prozent der türkischen Jugendlichen verlassen ohne Abschluss die Schule, rund 20 Prozent schaffen die Realschule und nur fünf Prozent das Abitur.

Wir müssen mit der falschen Toleranz aufhören

tagesschau.de: Was muss geschehen, damit die Migranten in der deutschen Gesellschaft ankommen?

Kelek: Wir müssen mit der falschen Toleranz aufhören. Richter dürfen türkische Straftäter nicht länger freilassen oder anders ansehen, weil sie einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Es wurden sogar "Ehrenmorde" von einem deutschen Gericht als "kulturelle Tradition" gewertet. Und die Aggressivität vieler türkischer Jugendliche wird einfach geduldet.

Auch in der Schule muss Schluss sein mit der Toleranz. Ich möchte, dass ein sieben Jahre altes türkisches Mädchen genauso behandelt wird, wie eine siebenjährige Deutsche. Turnen und Schwimmen gehören zum Unterricht – also müssen alle teilnehmen. Das gilt auch für Klassenfahrten. Es kann nicht sein, dass Lehrer bei den Eltern betteln müssen, damit die Kinder mitmachen dürfen. Ebenso wenig können wir weiter zulassen, dass die Islam-Föderation Zettel ausstellt, damit ein Mädchen vom Schwimmunterricht befreit wird. Wie viel Macht gibt man diesen Vereinen eigentlich mittlerweile?

tagesschau.de: Der deutschen Gesellschaft wird oft vorgeworfen, sich nicht wirklich für die Einwanderer zu interessieren und Missstände lange nicht bemerkt zu haben. Ändert sich das gerade?

Kelek: Momentan sieht es so aus: Die Deutschen gehen auf die Türken zu, hören ihnen zu, sagen, aha, so seid ihr also und dann war es das. Dass sich die Türken dafür interessieren, was eigentlich deutsche Kultur ist und wie Deutsche leben, das gibt es kaum. Wir brauchen aber einen echten Dialog. Beide Seiten müssen sich aufeinander zu bewegen. Religion gehört zur Kultur, aber sie darf mich nicht von der Gesellschaft abschneiden, in der ich lebe. Und die Verfassung und die freiheitliche Grundordnung dürfen nicht unter die religiöse Kultur untergeordnet werden.

Das Gespräch führte Christine Kahle