Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft "Der Baustelle EU eine Etage draufgesetzt"

Stand: 27.06.2007 09:12 Uhr

Was bleibt nach sechs Monaten deutscher EU-Ratspräsidentschaft? Unter der Führung von Merkel haben die EU-Staaten Fortschritte in der Klima- und Energiepolitik gemacht, vor allem aber die Reform der europäischen Union beschlossen. tagesschau.de hat bei Europa-Experten nachgefragt, wo die Staatengemeinschaft nun steht.

Von Jonathan Fasel für tagesschau.de

Können die Deutschen die Europäische Union von ihrer Schockstarre befreien? Experten stellten Anfang 2007 hohe Erwartungen an den Ratsvorsitz der Deutschen. Und nun? "Das Glas ist halb voll, halb leer", sagt Beate Kohler-Koch von der Uni Mannheim. Die Europa-Expertin ist sich sicher: "Die Ergebnisse der Ratspräsidentschaft und des letzten Gipfels sind gut, nur die Art und Weise, wie verhandelt wurde, sollte für die Zukunft überdacht werden." Zwar seien alle Staaten für den neuen Grundlagenvertrag ins Boot geholt worden, aber ob man dafür auch in Zukunft solchen "Kuhhandel" in Kauf nehmen müsse, sei fraglich. Gemeint sind Ausnahmeregelungen, die Großbritannien und Polen durchgeboxt hatten.

"Grundlagenvertrag ist Rückschritt"

Ähnlich denkt der Politologe Wolfgang Wessels. "Das Ergebnis ist mehr, als man erwarten konnte." Aber der Grundlagenvertrag sei ein Rückschritt im Vergleich zum Verfassungsentwurf: "Durch Kompromisse und Ausnahmen geht die ohnehin mangelhafte Transparenz endgültig verloren", sagt der Politikwissenschaftler der Uni Köln.

Werden die Beschlüsse auch umgesetzt?

Andreas Maurer, EU-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, ist skeptisch: "Wenn man fragt, was wäre denn noch drin gewesen, dann hat sich diese Ratspräsidentschaft vor allem dadurch ausgezeichnet, dass sie viele Ansagen macht", merkt er an. Man wisse nicht, ob der zuständige Rat der Fachminister die beschlossenen Vorschläge im Herbst auch wirklich angehe, meint er. "Bis dahin werden eine Reihe von Regierungen ausgetauscht sein. Nicht jede wird sich dem verpflichtet fühlen, was ihre Vorgängerin vereinbart hat."

"Hauen und Stechen wird kommen"

Der raue Ton zwischen den Staaten stört den Münsteraner Politikwissenschafter Wichard Woyke. Er erwartet nun härtere Verhandlungsrunden. So zum Beispiel um den neuen Etat ab 2013: "Das jetzt beschlossene Mehrheitssystem tritt erst in zehn Jahren in Kraft, da wird es noch einmal zum Hauen und Stechen um die Finanzen kommen", sagt Woyke. Noch klarer komme dies bei der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz zum Vorschein, da Mitgliedsstaaten entscheiden könnten, ob sie teilnehmen oder nicht. Woyke: "Da zeichnet sich ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab."

Konsens beim Klimaschutz

Immerhin: Bei der Klima- und Energiepolitik wird seit 9. März 2007 gemeinsame Sache gemacht. Hinter der griffigen Formel "20-20-20" verbirgt sich die Zusage der EU-Mitgliedsstaaten, bis zum Jahr 2020 rund 20 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 in die Atmosphäre zu blasen. Zudem wollen sie 20 Prozent weniger Energie verbrauchen und ihren Anteil an erneuerbaren Energien auf 20 Prozent verdreifachen. Der Plan stieß auf Widerstand in Frankreich, das Atomenergie zu den erneuerbaren Quellen zählen lassen wollte. Polen und Tschechien fürchteten um ihr Wirtschaftswachstum, doch Merkel setzte sich durch.

Wenig später schaffte Merkel mit der "Berliner Erklärung" zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge einen weiteren Teilerfolg. In der Absichtserklärung bestätigten die Mitgliedsstaaten ihren Willen, die EU "bis zu den Wahlen 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen". Zwar mäkelten auch hier Tschechien und Polen, dass der Text "in aller Heimlichkeit" vorbereitet worden sei - doch in der Erklärung sahen Experten Zeichen für Bewegung im festgefahrenen Reformprozess.

Kristina Notz vom Centrum für angewandte Politikforschung: "Die Erwartungen an die Bundeskanzlerin waren so hoch, dass Merkel sie zu Beginn dämpfen musste. Dann aber nahm die Ratspräsidentschaft spürbar Fahrt auf." Schließlich habe Merkel Führungsqualitäten gezeigt und die Erwartungen vieler übertroffen.

Mit Fingerspitzengefühl und Durchhaltevermögen

Deutschland und insbesondere Merkel haben ihren Ruf als geschickte Vermittler im halben Jahr der Ratspräsidentschaft ausgebaut. "Stimmen aus Brüssel loben die Diszipliniertheit, das Verhandlungsgeschick und das Engagement der Deutschen", so Wessels. Das sei ausschlaggebend für den Erfolg des letzten EU-Gipfels gewesen. "Und das ist ein tolles Kompliment an die Adresse von Frau Merkel." Die Kanzlerin habe zwar keine "endgültige Lösung" für die europäische Union gefunden, aber auf "die Baustelle Europa ein weiteres Stockwerk draufgesetzt".

"Hervorragende Kontaktpflege"

Auch Maurer betont die hervorragende persönliche Kontaktpflege Merkels. „Man kann mit dieser Kanzlerin von gleich zu gleich reden. Sie ist zwar Chefin des größten und wirtschaftlich stärksten Landes, aber sie benimmt sich nicht so“, charakterisiert er die Regierungschefin.

Vor der Arbeit der Bundesregierung auf EU-Ebene könne man "nur den Hut ziehen", schließt sich auch Woyke an. Die selbst gestellten Ziele - verbindliche Beschlüsse in der Klima- und Energiepolitik und eine Lösung im EU-Reformprozess - seien durchweg erreicht worden. Wichtige Partner wie der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker und der Staatspräsident Frankreichs, Nicolas Sarkozy, seien effizient in das Ringen um den neuen Grundsatzvertrag eingebunden worden. Das Tauziehen um Entscheidungen im EU-Ministerrat werde jedoch mittelfristig stärker werden, so Woyke: "Der Gipfel hat gezeigt, welch große Rolle die nationalen Interessen immer noch spielen."