Interview

Interview zu 50 Jahre NVA "Ich fühlte mich dreifach isoliert"

Stand: 30.07.2010 02:29 Uhr

Der 1. März ist in der DDR der Tag der Nationalen Volksarmee (NVA) gewesen. Heute vor 50 Jahren wurden zum ersten Mal Rekruten vereidigt. Die SED-Führung scheute keinen Propagandaaufwand, um die Jugend vom Waffendienst zu begeistern. 18 Monate waren Pflicht für die Männer. Wer den Dienst an der Waffe ablehnte, versuchte ein so genannter Bausoldat zu werden. Wer total verweigerte, musste ins Gefängnis.Manche Männer dienten gern, viele länger für einen Studienplatz. Anderen, wie dem Autor Joerg Waehner, wurde die NVA zur Qual. tagesschau.de sprach mit ihm über seine Zeit bei der so genannten "Asche", über Bespitzelungen und Solidarität.

tagesschau.de: Sie sind 1982 recht abrupt zur Nationalen Volksarmee einberufen worden – wie kam das?

Joerg Waehner: Ich war nach einer Denunziation verhaftet worden. Man warf mir staatsfeindliche Hetze und geplante Republikflucht vor - das ging auf Aussagen von Stasi-Spitzeln zurück. Aber man stellte dann schnell fest, dass die Vorwürfe nicht stimmten. Da die konstruierten Beweismittel für eine sofortige Verurteilung nicht ausreichten, hat man mich sofort zur Armee eingezogen, um mich weiter zu isolieren und weiter beobachten zu können. Das erschien mir damals als das kleinere Übel.

tagesschau.de: Wie haben Sie Ihren ersten Tag in Uniform erlebt?

Waehner: Natürlich war das ein Schock. Ich hatte zwar gehofft, statt einer Verurteilung zur Armee geschickt zu werden. Ich fühlte mich dann aber dreifach eingesperrt. Ich war in der DDR eingesperrt, konnte mich selbst innerhalb des Landes nur bedingt bewegen, weil man mir meinen Ausweis weggenommen hatte und befand mich nun in einer Kaserne. Und dann bekam meine damalige Freundin fast zeitgleich die Ausreisegenehmigung. Als Soldat durfte ich keinen Kontakt zu ihr aufnehmen.

Warnung von Vorgesetzten

tagesschau.de: Wie sind Ihnen die Vorgesetzten gegenübergetreten? Sie wussten doch von Ihrer Vorgeschichte.

Waehner: Man war mir gegenüber zunächst sehr vorsichtig, und darin steckte auch Respekt. Später haben mich auch Vorgesetzte vor Spitzeln gewarnt, vor Stubenkameraden und Vorgesetzen. Ich wurde auch gewarnt, mit meiner Post vorsichtig zu sein. Gleichzeitig hatte man mich bei Stubenkontrollen „auf dem Kieker“. All das, auch die Warnungen, hat in der ohnehin eingeschränkten Situation meine Isolation noch vergrößert.

tagesschau.de: Andererseits stießen Sie aber auch nicht auf völlige Ablehnung.

Waehner: Natürlich habe ich nicht nur negative Erlebnisse gehabt, sondern auch Solidarität von Kameraden und Vorgesetzten erfahren, auch von solchen, die selbst Spitzel waren. Insofern war die NVA für mich eine konzentrierte Form der DDR.

"Verlust ziviler Maßstäbe durch Kasernierung"

tagesschau.de: Viele ehemalige Soldaten berichten, dass sie bei der Armee erheblichen Schikanen ausgesetzt waren. Haben Sie das auch erlebt?

Waehner: Es gab Schikanen wie das Stubenreinigen oder mitten in der Nacht Kartoffeln zu schälen, aber man muss das differenziert betrachten. Ich glaube, dass das etwas ist, was Militär aus einem macht. Das Eingesperrtsein und die militärische Routine erzeugen erst diese Handlungsabläufe. Wenn Menschen in eine so extreme Situation gestellt werden, zeigen sich ihre Charakterzüge viel deutlicher. Wenn man erst nach 20 Wochen Kasernierung den ersten Urlaub bekommt, verliert man die zivilen Maßstäbe.

Zur Person

Joerg Waehner, Jahrgang 1962, wurde im April 1982 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) unter dem Verdacht der geplanten Republikflucht, Herabwürdigung der DDR und der staatsfeindlichen Hetze verhaftet. Mangels Beweisen wurde er sofort zur Armee eingezogen und diente in einem Pionierbataillon bei Pirna. Joerg Waehner lebt als Schriftsteller in Berlin. Seine Zeit bei der NVA beschreibt er in dem soeben erschienen Buch "Einstrich-Keinstrich" (Kiepenheuer & Witsch)

tagesschau.de: Immerhin haben sie offenbar keine körperlichen Qualen erleiden müssen.

Waehner: Ich habe die ganze Zeit darauf geachtet, dass ich keine Strafe bekomme, die meine Dienstzeit verlängert hätte. Ich wollte keine Sekunde länger in der Kaserne bleiben, als unbedingt notwendig. Ich wusste ja, dass bei unseren Manövern Leute schwer verletzt und ums Leben gekommen sind.

Von Vertrauten bespitzelt

tagesschau.de: Hatten Sie Vertraute?

Waehner: Die gab es, aber Vertrauen konnte nur gedeihen, so weit es das Misstrauen zuließ. Ich wusste ja nie, wer Informationen über mich weiter gab. Und wenn sich zu jemanden Vertrauen herausbildete, wurde gleich versucht, die als Spitzel anzuwerben. Man hat ja gerade in so einem beschränkten Rahmen das Bedürfnis, sich auszutauschen. Einer hat auch gleich alles brühwarm ausgeplaudert. Da ist der Druck, vorsichtig zu sein, um so größer.

tagesschau.de: Sie mussten sich ständig kontrollieren.

Waehner: Die Willkür war ja nicht berechenbar. Ich wusste auch angesichts meiner vorausgegangenen Verhaftung nicht, was mich nach dem Ende meiner Armeezeit erwarten würde. Ich wusste nicht, wie es beruflich und privat weitergehen würde. Jeder Tag brachte mich dem Ende des Militärdienstes näher, aber er brachte nicht wirklich Hoffnung, dass das Leben normal werden würde.

Heimliches Tagebuch

tagesschau.de: Sie haben in dieser Zeit Tagebuch geschrieben – auch das war nicht ungefährlich.

Waehner: Das war strengstens verboten und ich habe es auch versucht, zu verstecken. Trotzdem wurde es einmal bei einer Kontrolle entdeckt. Später habe ich es immer unter der Uniform getragen, damit es nicht gefunden wurde. Das war für mich die einzige Form, die Zeit für mich zu dokumentieren.

tagesschau.de: Haben Sie Verständnis für die derzeitige Ost- und NVA-Nostalgie?

Waehner: Natürlich nicht. Ich will niemandem absprechen, sich zu erinnern. Andererseits habe ich durch die Artikel und Filme der jüngsten Zeit fast schon an meinen Erinnerungen gezweifelt. Und weil ich andere Dinge erlebt habe, habe ich ja auch mein Buch geschrieben. Ich möchte niemandem vorschreiben, wie er sich zu erinnern hat. Aber ich will zumindest sagen, wie meine Erinnerung ist. Es gibt DDR-Symbole wie Fahnen, Hemden oder Uniformen, die einfach nicht unbelastet sind. Es sind immer noch Zeichen von Unterdrückung und Zwang. Es ist nichts Entleertes, was man aus nostalgischen oder modischen Gründen tragen kann.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de