Streit um Länderfinanzausgleich Die Zahlmeister gegen die Kirchenmäuse

Stand: 09.12.2016 18:12 Uhr

Vom Agrarland zum Industrie-Standort: Bayern hat es geschafft - auch dank bundesstaatlicher Solidarhilfe. Nun will der Freistaat davon nichts mehr wissen - und weniger zahlen. Bayern macht Front gegen die riesige Umverteilungsmaschine mit dem sperrigen Namen Länderfinanzausgleich. Warum eigentlich?

Von Wenke Börnsen, tagesschau.de

"Berlin ist pleite/det iss’n Grund zum feiern/Wir sind verrückt und unsre Schulden zahl’n die Bayern" - der einstige Gassenhauer des Kabarettisten Thomas Pigor ist in den Berliner Kneipen längst verhallt, die Zornesröte der Bayern aber ist gestiegen.

Grund für die bajuwarische Wut ist eine Ecke des deutschen Steuerwesens, in der sich kaum jemand wirklich auskennt: der Länderfinanzausgleich. Hinter dem sperrigen Namen steckt eine einfache Grundidee: Die Starken helfen den Schwachen. Durch die Verteilung der Steuermittel unter den Bundesländern sollen wirtschaftliche Unterschiede ausgeglichen werden. So steht es auch in Artikel 107 des Grundgesetzes. Dadurch werden reichere Länder etwas ärmer und ärmere Länder werden etwas reicher. Es geht also um Solidarität - wer kann was dagegen haben? "Wir sind wirklich solidarisch, aber doof sind wir auch nicht", sagt Bayerns Finanzminister Markus Söder. "Es kann doch nicht sein, dass einer alles zahlt. So kann es nicht weitergehen."

"Worte sind genug gewechselt"

Geht es wohl auch nicht: Bayern hat angekündigt, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Länderfinanzausgleich zu klagen. Jetzt wirklich, denn angedroht hatte Bayern den Gang nach Karlsruhe  immer mal wieder. "Überfällig" nennt denn auch Wirtschaftsminister und Vize-Regierungschef Martin Zeil die angekündigte Klage. Alle Gespräche mit den Nehmerländern hätten nichts gebracht. "Worte sind nun genug gewechselt." Bayern habe allein im vergangenen Jahr mehr als 3,6 Milliarden Euro an andere Bundesländer überwiesen. Die Grenzen der Zumutbarkeit seien "erreicht wenn nicht gar überschritten".

Was die bayerische Landesregierung gerne vergisst: Bayern war selbst jahrzehntelang Profiteur der bundesstaatlichen Solidarhilfe, von 1950 bis 1986 und dann nochmal 1992. Arm wie eine Kirchenmaus, ein rückständiges Agrarland. Als der Finanzausgleich 1950 eingeführt wurde, lebte in Bayern jeder Dritte von der Landwirtschaft. 1957 lagen von den 34 ärmsten Landkreisen der Bundesrepublik 32 in Bayern. Auch dank der Solidarhilfe konnte Bayern den Umbau vom Agrar- zum Industrieland finanzieren. Große Unternehmen siedelten sich im Freistaat an: Siemens, Audi, die Allianz, Rüstungs- und Luftfahrtunternehmen - alles große Firmen und damit große Steuerzahler.

"Bayern ist aber auch das einzige Land, das es vom Nehmer- zum Geberland geschafft hat", erinnert Finanzrechtler Ulrich Häde von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder im Gespräch mit tagesschau.de. "Und sie zahlen seit Jahren ziemlich große Summen ein. Wenn sich dann andere Bundesländer von den bayerischen Zahlungen Wohltaten für ihre Bürger leisten, etwa kostenlose Kindergärten oder Studienplätze, dann führt das zu Unzufriedenheit."

Der Löwenanteil geht nach Berlin

Nehmerländer gegen Geberländer, Zahlmeister gegen Bittsteller: Die Fronten sind klar - und die Mehrheiten auch. Nur noch drei große Geberländer gibt es: Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Hamburg zahlte 2011 zwar auch ein, doch das war vergleichsweise ein Kleckerbetrag. Alle anderen Bundesländer erhalten Geld aus der riesigen Umverteilungsmaschine namens Länderfinanzausgleich. Doch nicht ungefähr gleichviel, sondern: "Berlin erhält 42 Prozent des Länderfinanzausgleichs. Die anderen elf Länder teilen sich die restlichen rund 58 Prozent", sagt der Magdeburger Politikwissenschaftler Wolfgang Renzsch gegenüber tagesschau.de. "Wäre Berlin nicht so ein Problemfall, dann hätten wir diese Probleme nicht."

Trifft der Kabarettist Pigor mit seinem "Reim auf die Pleite" also doch einen wahren Kern: Berlin feiert, Bayern zahlt? "Berlin hat niedrige Einnahmen. Das ist das Problem", erklärt Renzsch. Die Ausgabenseite sei für den Finanzausgleich überflüssig. "Hätten anstelle des Bundeskanzleramts oder des Bundesfinanzministeriums die Firma Siemens oder die Allianz-Versicherung ihren Sitz in Berlin, also große Steuerzahler, wäre die Hauptstadt weniger klamm." Und Renzsch blickt nach Washington DC: "Hier wird fiktiv angenommen, was die Hauptstadt für Einnahmen hätte - ohne die Steuerausfälle und besonderen Kosten. Das wird dann aus dem amerikanischen Bundeshaushalt finanziert." Dafür bestimme die Regierung aber auch, was mit dem Geld passiert. Als Renzsch diese Idee dem Berliner Senat unterbreitete, winkte man dort nur ab: "Da regiert uns der Bund zuviel rein", gibt Renzsch die Reaktion wieder. Da nehme man lieber das Geld aus dem Länderfinanzausgleich.

Der Zeitpunkt für den Neustart: 2020

Dass diese riesige Umverteilungsmaschine Sand im Getriebe hat und sie dringend überholt werden muss - da sind sich alle Länder einig, egal, ob Geber oder Nehmer. Auch der Zeitpunkt für einen Neustart steht längst fest: 2020. Ende 2019 laufen sowohl der Länderfinanzausgleich als auch der Solidarpakt II aus, zudem gilt ab 2020 die Schuldenbremse.

Warum also jetzt klagen? "Weil 2013 Landtagswahlen in Bayern sind", vermutet der Politikwissenschaftler. Zudem will Seehofer den Freistaat bis 2030 komplett schuldenfrei machen - da möchte er die milliardenschwere Solidarhilfe gerne eindampfen. Eine Klage käme aber jetzt zur Unzeit, denn sie kostet Zeit. Kostbare Verhandlungszeit. "Dann warten alle erstmal ab, was Karlsruhe sagt, anstatt sich an einen Tisch zu setzen und ein zukunftsfähiges Ausgleichssystem zu gestalten. Zuletzt dauerte es auch acht Jahre, bis die Einigung auf die jetzige Finanzverfassung stand", erinnert Renzsch. Das war 1969.

Ein Hamburger gilt als mehr wert als ein Hesse

Doch wie kann ein "absolut bescheuertes System", wie Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann den Länderfinanzausgleich jüngst ziemlich hochdeutsch schimpfte, reformiert werden?

Einer, der fast jede Stellschraube des komplizierten Ausgleichsystems kennt, ist Hanno Kube. Für den Finanz- und Steuerrechtler an der Uni Mainz liegt ein Hauptproblem des jetzigen Systems in den fehlenden Anreizen, die eigenen Steuereinnahmen zu erhöhen. Zentraler Grund dafür ist die weitgehende Nivellierung der Finanzkraft. Die Probleme gehen aber noch weiter. Als kaum haltbar bezeichnet Kube im Gespräch mit tagesschau.de etwa die sogenannte Veredelung der Einwohner von Stadtstaaten. So ist jeder Einwohner Hamburgs, Bremens und Berlins in den Ausgleichsrechnungen mehr wert als der Einwohner in einem Flächenstaat. Dadurch soll den besonderen Kosten in Ballungszentren Rechnung getragen werden. "Ist das aber gerechtfertigt?", fragt Kube. Denn auch in den Flächenstaaten gebe es große, dichtbesiedelte Städte, die zentrale Einrichtungen finanzieren müssen.

Veredelte Einwohner haben übrigens auch Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, hier wegen besonders dünner Besiedlung - die es aber ebenfalls in anderen Flächenstaaten gibt. "Das alles ist so komplex und in sich widersprüchlich, dass es nicht mehr vermittelbar ist, und verfassungsrechtlich problematisch", sagt Kube.

Einladung zum Blaumachen?

Ein weiterer Vorwurf gegen das bestehende System lautet: Es ist leistungsfeindlich und eine Einladung zum Blaumachen. Der Finanzausgleich nivelliere die Unterschiede zwischen den Ländern zu stark und gebe den Landesregierungen zu wenig Anreize, ihr Steueraufkommen zu erhöhen. Ministerpräsident Kretschmann formuliert es so: "Wenn Baden-Württemberg höhere Steuereinnahmen generiert, müssen wir das meiste davon abgeben. Wenn ein Nehmerland die Einnahmen erhöht, kriegt es weniger Geld aus dem Finanzausgleich." Und Bayerns Wirtschaftsminister Zeil rechnet in der FAZ vor: "Nimmt Bayern durch erfolgreiches Regieren 1000 Euro mehr Einkommensteuer ein, verbleiben davon nur 140 Euro im bayerischen Staatssäckel. Über 860 Euro freuen sich hingegen die Finanzminister jener Länder, die damit ihren Bürgern Wohltaten bescheren. Ist das gerecht?"

Mehr Wettbewerbsföderalismus lautet daher die Forderung der großen Geber. "Für mehr Wettbewerb müssten erstmal vergleichbare Ausgangsbedingungen herrschen", wendet Finanzrechtler Häde ein. "Die ostdeutschen Länder mit den süddeutschen  in einen verstärkten Wettbewerb zu schicken - das wäre schon ein sehr schiefer Wettbewerb." Und wenn sich die Berliner kostenlose Kindergärten leisten wollten, müssten sie eben an anderer Stelle sparen. "Die Mittel aus dem Finanzausgleich sind nicht zweckgebunden."

Radikale Reformvorschläge

Stoff für Verhandlungen bis 2019 gibt es also genug. Reformvorschläge auch, darunter auch Radikallösungen. Eine Idee: Den Finanzausgleich komplett abschaffen, stattdessen soll der Bund ein neues System für die Aufteilung der Umsatzsteuereinnahmen einführen. Folgende Faktoren sollen einbezogen werden: Einwohnerzahl, Finanzkraft, Bevölkerungsdichte und -entwicklung sowie die Arbeitslosenzahl. Andere Ökonomen schlagen die Einrichtung einer nationalen Steuerbehörde vor oder sprechen sich dafür aus, ärmeren Ländern Pauschalbeträge zu überweisen.

Hand mit fünf Euromünzen

Beim Geld hört die Freundschaft auf: Geber- und Nehmerländer sind seit Jahren im Dauerzoff um den Finanzausgleich.

Unwahrscheinlich, dass eine Reform wirklich so weit gehen wird. Selbst die lautesten Kritiker - die Bayern - rufen nicht nach Radikallösungen. Vermutlich wird also nur an einigen Stellschrauben der Umverteilungsmaschine gedreht.

Und die Klage? "Kontraproduktiv. Reine Krawallpolitik." Politikwissenschaftler Rentsch geht hart mit der bayerischen Landesregierung ins Gericht. Die Klagen über zu hohe Belastungen seien unbegründet: "Gerade mal 7,3 Milliarden Euro von insgesamt 202 Milliarden Euro an Ländereinnahmen werden umverteilt." Von einem Ausbluten der reichen Länder könne keine Rede sein.

"Klage könnte nach hinten losgehen"

Auch die Erfolgsaussichten der Bayern in Karlsruhe sind keineswegs sicher. "Das könnte nach hinten losgehen", sagt Finanzrechtler Häde. "Auch bei der letzten Klage zum Länderfinanzausgleich 1999 gab es keine Sieger." Es habe nur kleine Veränderungen gegeben - zugunsten, aber auch auch zuungunsten der großen Geberländer. Die Länder müssten einfach davon ausgehen, dass das Grundgesetz einen angemessenen Ausgleich vorschreibe. "Und nicht alles, womit die Politik nicht zurechtkommt, muss Karlsruhe klären."

bundesverfassungsgericht

Zuletzt befasste sich das Bundesverfassungsgericht 1999 mit dem Länderfinanzausgleich. Echte Sieger gab es nicht.

Auch der Mainzer Finanz- und Steuerrechtler Kube sieht die Politik in der Pflicht: "Die Klage kann als Drohung dienen und ist ultima ratio. Im Wesentlichen müssen die Dinge aber politisch ausgehandelt werden. Es geht um sinnvolle und vernünftige Zukunftsgestaltung."

Um Zukunftsgestaltung geht es wohl auch der bayerischen Landesregierung mit der Klage in Karlsruhe - allerdings um ihre eigene Zukunft nach der Landtagswahl 2013.