Interview

Politologe Kraushaar über neue Erkenntnisse zu Ohnesorg "Geburtsstunde der Studentenbewegung neu definiert"

Stand: 22.05.2009 18:45 Uhr

Benno Ohnesorg soll 1967 von einem Stasi-Mitarbeiter erschossen worden sein. Die Tat, die auch als Geburtsstunde radikalerer Studentenproteste gilt, müsse nun in ein neues Licht gerückt werden, meint der Politologe und 68er-Chronist Wolfgang Kraushaar im Interview mit tagesschau.de.

Benno Ohnesorg soll 1967 von einem Stasi-Mitarbeiter erschossen worden sein. Die Tat, die auch als Geburtsstunde radikalerer Studentenproteste gilt, müsse nun in ein neues Licht gerückt werden, meint der Politologe und 68er-Chronist Wolfgang Kraushaar im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Der Todesschütze von Benno Ohnesorg war offenbar ein Stasi-Mitarbeiter: Ist das eine Überraschung für Sie?

Wolfgang Kraushaar: Für jemanden wie mich, der seit anderthalb Jahrzehnten darüber geforscht hat, ist das zwar keine Sensation, die einen noch umwerfen könnte, aber zweifelsohne eine faustdicke Überraschung.

tagesschau.de: In den Akten gibt es keinen Hinweis darauf, dass Kurras im Auftrag der Stasi gehandelt hat und die Birthler-Behörde hält das auch für nicht plausibel. Sehen Sie das auch so? Was hätte denn die DDR für ein Interesse daran haben können?

Kraushaar: Die DDR, genauer gesagt die SED als die politische Kraft dieses sich sozialistisch gebärdenden Staates, hatte ein massives Interesse daran, jede sich bietende Gelegenheit politisch auszuschlachten, um den West-Berliner Senat oder die Bundesregierung zu diskreditieren. Es gibt im Zusammenhang mit dem 2. Juni eine Reihe von Vorkommnissen, die das belegen. Zum Beispiel gab es am 8. Juni 1967 einen Trauerkonvoi mit den sterblichen Resten Benno Ohnesorgs von West-Berlin nach Hannover, mit Hunderten von Fahrzeugen. Dieser Konvoi konnte ohne jegliche Kontrolle die Grenze passieren - das soll das erste Mal gewesen sei, dass so etwas möglich war. An der Autobahn standen Tausende FDJ-Mitglieder Spalier, um dem Toten ihre Referenz zu erweisen; ein sehr ungewöhnliches Vorkommnis, das damals im Westen kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Daran kann man erkennen, wie sehr die SED darauf erpicht war, politisches Kapital aus diesem fatalen Todesfall schlagen zu wollen.

tagesschau.de: Hätte der Verlauf der Studentenproteste und die Folgen anders ausgesehen, wenn klar gewesen wäre, dass Ohnesorg möglicherweise von einem Stasi-Spitzel getötet wurde?

Kraushaar:  In der Tat stellt sich nun die Geburtsstunde der Studentenbewegung in einem erheblich anderen Licht dar. Denn das, was damals seitens der Studentenschaft gezündet hat, war eine riesige Empörung über den Westberliner Senat, dessen Polizei und damit gegenüber den bundesdeutschen Staatsapparat insgesamt. Es entstand ein massives Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen mit weitreichenden Folgen.

Das Bild, das man damals vor Augen hatte, war das eines repressiven Staates, dessen Polizeiangehörige durch den Nationalsozialismus geprägt gewesen seien. Nicht nur, dass sie autoritätshörig waren, sondern auch, dass sie voller Sadismus in Polizeiaktionen hieingegangen seien. Wenn man jetzt in Rechnung stellt, dass der Todesschütze sowohl Mitglied der SED als auch Informant der Stasi gewesen ist, dann hätte es eine andere politische Aufladung der Studentenbewegung gegeben. Das Geburtsmerkmal der Studentenbewegung - durch ein Opfer polizeilicher Repression geprägt worden zu sein, ein friedlich demonstrierender, unschuldiger Student wird von einem schießwütigen Polizisten erschossen – wäre ein anderes gewesen.

Dieses in bestimmter Hinsicht "falsche" Bild, wie man von heute an ja sagen muss, hat zu einer enormen politischen Radikalisierung geführt. Und diese wiederum hat weitere Folgen gehabt, insbesondere was den sogenannten "bewaffneten Widerstand" anbelangt. Nicht ohne Grund hat sich ja die zweite wichtige terroristische Gruppe auf das Polizeiopfer berufen und sich "Bewegung 2. Juni" genannt.

Zur Person

Wolfgang Kraushaar ist Politologe am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS). Mit seinen zahlreichen Publikationen über die Studentenbewegung und zur Entstehungsgeschichte des bundesdeutschen Terrorismus gilt er als Chronist der 68er-Bewegung.

tagesschau.de: Der Prozess gegen den Polizisten Kurras endete mit Freispruch aus Mangel an Beweisen. Mehr als vier Jahrzehnte später tauchen nun insgesamt 17 Aktenbände über ihn auf. Was kommt da noch alles raus?

Kraushaar: Das kann man natürlich überhaupt nicht abschätzen. Man sieht ja, dass sogar mit einem so großen zeitlichen Abstand wirkliche Überraschungen möglich sind, die die Grundlagen eines bestimmten historischen Bildes in Frage stellen und möglicherweise gravierend verändern. Das unterstreicht im übrigen auch noch einmal die Bedeutung der Birthler-Behörde. Ohne sie würde es diese neuen, sensationell anmutenden Erkenntnisse nicht geben.

Aber was mich doch irritiert hat, ist die Äußerung eines der beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter der Birthler-Behörde, denen wir dies zu verdanken haben. Helmut Müller-Enbergs hat erklärt, dass es zunächst einmal gar keine Hinweise auf die Existenz derartiger Akten gegeben habe und dass man ihnen "ausschließlich durch interne Forschungen" auf die Spur gekommen sei. Da würde man als Außenstehender doch gerne wissen, wer den Hinweis gegeben hat auf die Existenz eine solchen Aktenbestandes und wo der sich tatsächlich befunden hat. Ein Zweifel an dessen Echtheit und historischem Stellenwert sollte allerdings aufgrund seines Volumens und seiner Dichte so gut wie  ausgeschlossen sein.

Das Interview führte Julia Lüke für tagesschau.de.