Minderjährig verheiratete Flüchtlinge Kinderehen - auch ein Problem in Deutschland

Stand: 01.09.2016 18:22 Uhr

Unter Flüchtlingen in Deutschland sind viele Ehepaare, manchmal ist die Frau noch minderjährig. Die Regierung will diese Kinderehen nicht mehr anerkennen. Experten weisen jedoch darauf hin, die Heirat könne Mädchen auf der Flucht schützen.

Von Alexander Steininger, tagesschau.de

Es sind drastische Zahlen, die die Frauenrechtsorganisation der Vereinten Nationen erhoben hat: Bei 51 Prozent aller Ehen, die zwischen Syrern geschlossen werden, ist mindestens ein Ehepartner - fast immer die Frau - minderjährig. Vor Ausbruch des Krieges waren es nur 13 Prozent. Im Irak sieht es ähnlich aus. Dies geht aus Umfragen hervor, die Helfer in Flüchtlingslagern in Jordanien und dem Libanon durchgeführt haben.

1000 Kinderehen in Deutschland?

Das Problem scheint auf den ersten Blick weit entfernt - doch auch Deutschland ist davon betroffen. Denn mit den Hunderttausenden Flüchtlingen kommen auch zwangsläufig viele minderjährig Verheiratete. Laut "Welt am Sonntag" sollen die Bundesländer im vergangenen Jahr rund 1000 Kinderehen registriert haben.

Die Probleme: Verheiratete Mädchen brechen häufig die Schule ab, weil sie zu Hausarbeit genötigt oder schwanger werden. Dabei sind Jugendliche in Deutschland, je nach Bundesland, in der Regel bis zum 16. Lebensjahr schulpflichtig. "Häufig regelt der Mann dazu noch die öffentlichen Belange wie Behördengänge und trifft finanzielle Entscheidungen - und damit ist Missbrauch Tür und Tor geöffnet", warnt Susanne Schröter, Ethnologin und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Der Staat könne in dem Fall seiner Schutzverantwortung für das Wohl der Kinder und Jugendlichen nicht nachkommen, und "die Integration der Frauen wird dadurch erheblich erschwert".

OLG Bamberg erkennt Ehe mit 15-Jähriger an

Durch den Anstieg der Fallzahlen hat das Thema nun auch das politische Berlin erreicht. Ein weiterer Grund dafür ist ein Urteil des Oberlandesgerichts Bamberg. Das Jugendamt der Stadt erkannte die Ehe einer 15-jährigen Syrerin mit ihrem 21-jährigen Cousin nicht an und nahm das Mädchen aus Gründen des Kindeswohls in Obhut. Nachdem das Amtsgericht diese Beschränkung aufhoben hatte, klagte das Jugendamt beim Oberlandesgericht Bamberg und unterlag - das OLG erkannte die Ehe als wirksam an, die 15-jährige dürfe selbst über den Umgang mit ihrem Mann entscheiden.

Das Gericht berücksichtigte bei seiner Entscheidung, dass die beiden nach der Hochzeit in Syrien durch die gemeinsame monatelange Flucht über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute besonders eng verbunden sind. Außerdem, so das OLG, bestünden in dem konkreten Fall keinerlei Anzeichen für eine erzwungene Ehe.

Wurde hier ein glückliches Ehepaar, bei dem die Frau nur wenige Monate jünger ist, als es das deutsche Recht zur Eheschließung erlaubt, aus falsch verstandenem Jugendschutz getrennt? Oder entsteht dadurch ein Präzedenzfall, der die Kinderehe durch die Hintertür legalisiert?

Regierung will Kinderehen verbieten

So oder so hat die Politik das Thema aufgegriffen: Bundesjustizminister Heiko Maas will eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern einrichten, die sich noch im September mit dem Thema befassen soll. Und auch die Regierungsparteien SPD und CDU/CSU wollen Kinderehen einen Riegel vorschieben. "Ein 15-jähriges Mädchen gehört nicht in eine Ehe, sondern in die Schule", heißt es in einer Erklärung der Unionsfraktion. Begründung: "Der Vorrang des Kindeswohls sowie die Gleichbehandlung von Mann und Frau sind Grundsäulen unserer Gesellschaft und unseres Werteverständnisses. Die Verheiratung von Kindern ist damit absolut unvereinbar."

Kinderrechtsorganisationen fordern mehr Schutz

Der Vorstoß findet prinzipiell Unterstützung von Kinderrechtsorganisationen. Der ehrenamtliche Präsident der Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, kritisiert jedoch, dass Deutschland selbst bislang die UN-Kinderrechtskonvention nicht umsetzt. Denn auch hierzulande ist es in Sonderfällen erlaubt, mit 16 die Ehe einzugehen: "Bevor wir fehlenden Kinderschutz in anderen Ländern kritisieren, sollten wir erstmal zu Hause die Dinge in Ordnung bringen."

Für eine Eheschließung in Deutschland reicht es aus, "wenn einer der Ehepartner mindestens 18 und der andere mindestens 16 Jahre alt ist und das Familiengericht die Eheschließung erlaubt", erläutert Tobias Sindram aus der ARD-Rechtsredaktion. Eine 16-jährige Deutsche kann also auch hier einen 21-Jährigen heiraten, wenn das Familiengericht zustimmt.

Ein weiterer Streitpunkt: Häufig werden in Syrien Cousins mit ihren Cousinen verheiratet. Auch diese Verbindung erlaubt das deutsche Gesetz. Expertin Schröter fordert dagegen, solche Eheschließungen generell zu verbieten. Denn Ehen innerhalb der Großfamilie üben besonderen Druck auf die Partner aus, nicht nur unter Flüchtlingen, sondern auch unter türkischstämmigen Deutschen. "Es macht eine mögliche Scheidung schwieriger, da die Betroffenen damit nicht den Ehepartner, sondern auch einen Großteil ihrer Familie verlieren würden", so Schröter. Jurist Sindram äußert jedoch Bedenken, ob so ein Verbot zulässig wäre: "Jeder Eingriff in die Eheschließungsfreiheit muss vor dem Grundgesetz Bestand haben. Auch in Deutschland war es lange Zeit nicht unüblich, dass ein Cousin seine Cousine heiratete."

Vormund für verheiratete Mädchen?

Aber was hieße eine Gesetzesänderung nun konkret für ein syrisches Ehepaar, bei dem die Frau noch minderjährig ist? "Zunächst würde das Mädchen einen rechtlichen Vormund bekommen, der sich um Behördengänge und andere offizielle Angelegenheiten kümmert und sicherstellt, dass die Person auch die Schule besuchen kann", erläutert Kinderschutzbundpräsident Hilgers. Im Einzelfall bekommen Betroffene auch einen Platz in einem Wohnheim des Jugendamtes, um sie vor Gewalt oder Missbrauch in der Familie zu schützen.

Eheschließung als Schutz?

Allerdings warnen Experten, dass die gestiegene Anzahl an syrischen Kinderehen einen konkreten Grund hat: den Schutz minderjähriger Mädchen. Auf der Flucht verlieren viele Menschen ihre Angehörigen, stehen in Flüchtlingslagern oder in Schleusertrecks alleine da. Gerade für Frauen kann dies durchaus gefährlich sein. Deshalb handeln Eltern, die ihre minderjährige Tochter verheiraten, oft in gutem Willen, sagt Alia al-Dalli, die Leiterin der SOS-Kinderdörfer im Nahen Osten: "Eine Ehe soll ihren Töchtern in der unsicheren und instabilen Fluchtsituation helfen, sie finanziell, aber auch körperlich abzusichern und ihre Ehre zu bewahren. Häufig wird auch eine Mitgift an die Eltern gezahlt, um eine Heiratserlaubnis zu erhalten. Deshalb ist Armut leider ein häufiger Beweggrund für syrische Eltern, ihre Töchter zu verheiraten."

Sindram weist zudem darauf hin, dass die deutsche Rechtsprechung ausländische Ehen prinzipiell erstmal anerkennt. "Die Frage, wie alt man sein muss, um zu heiraten, richtet sich zu allererst nach dem Heimatrecht der Eheschließenden, also dem Land, aus dem die Eheleute stammen. Kann man danach schon mit 14 heiraten, reicht das eigentlich aus." Damit dies in Deutschland verweigert wird, muss eine Störung der "Ordre Public" vorliegen: "Darunter versteht man die fundamentalen rechtlichen Wertvorstellungen in Deutschland. Und für die Frage des Mindestalters zum Heiraten ist das höchstrichterlich noch nicht entschieden."

Hoffnung auf BGH

Ob das Urteil aus Bamberg zum Präzedenzfall taugt, scheint jedoch fraglich. Die Stadt legte Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof (BGH) ein. Das OLG Bamberg ließ den Vorgang wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung zu. Kinderrechtsexperten hoffen, dass dort zugunsten des Jugendschutzes entschieden wird - und dass Deutschland die Gelegenheit nutzt, um generell mit seinem angestaubten Eherecht aufzuräumen.