Interview

Politologin zu Aufgaben der neuen Regierung Von Aufbruch keine Spur

Stand: 16.12.2013 12:01 Uhr

Das neue Kabinett steht und die eben noch angeschlagene SPD strotzt vor Kraft. Beim Regieren wird ihr das aber nicht viel nützen, meint die Politologin Anke Hassel. Im Interview mit tagesschau.de erklärt sie, welche Aufgaben für die Große Koalition jetzt anstehen und wo es hapern könnte.

tagesschau.de: Was war für Sie die größte Überraschung im neuen Kabinett?

Anke Hassel: Die größte Überraschung war sicher Ursula von der Leyen. Mit ihr als Verteidigungsministerin hat wirklich niemand gerechnet. Es ist offensichtlich, dass sie sich für ihre nächste Rolle vorbereitet, nämlich längerfristig Merkel als Kanzlerin nachzufolgen.

Was mich außerdem überrascht hat, ist das Schwächeln der CSU. Horst Seehofers Personal ist nicht sehr prominent. Daraus kann man schließen, dass Seehofer - anstatt starke Minister zu schicken - selbst über den Koalitionsausschuss mehr in der Regierung mitreden möchte.

Zur Person

Anke Hassel lehrt Public Policy an der Hertie School of Governance in Berlin. Sie studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften sowie Rechtswissenschaften in Bonn und an der London School of Economics. 2003/2004 war sie im Planungsstab des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) tätig.

tagesschau.de: Hat die SPD einen Fehler gemacht, indem sie sich das Finanzressort nicht gesichert hat?

Hassel: Die SPD hat mit Wirtschaft und Energie und dem Arbeits- sowie dem Familienministerium ja Ressorts, die mit sehr vielen Ausgaben verbunden sind, während das Finanzministerium das Einnahmeministerium ist. Insofern regiert die SPD dennoch sehr stark in die Finanzpolitik mit hinein, weil sie die Ausgaben kontrolliert - oder eben auch nicht. Dieser Einfluss ist auch nicht zu unterschätzen. Ich glaube außerdem, dass das Finanzressort für die SPD reine Verhandlungsmasse war, sie hat es wohl nie ernsthaft angestrebt. Sie hätte keinen glaubwürdigen Minister für dieses Amt gehabt, und Gabriel hat es sich wohl nicht zugetraut.

"Bei Merkel wird Gabriel der Mitgliederentscheid nichts nützen"

tagesschau.de: Konnte die SPD genügend für sich und ihre Wähler herausholen?

Hassel: Wenn man die SPD nur daran misst, was sie wollte, dann ist sie sehr gut weggekommen. Die wesentlichen Punkte hat sie erreicht. Aber ich finde, schon im Wahlkampf und in den Koalitionsverhandlungen war die SPD nicht so ambitioniert, wie sie es hätte sein können. Zum Beispiel spielt die Bildungspolitik im Koalitionsvertrag eine sehr untergeordnete Rolle. Hier hätte die SPD sehr viel mehr rausholen müssen.

tagesschau.de: Nach der großen Zustimmung zum SPD-Mitgliederentscheid strotzt Parteichef Gabriel vor Kraft. Wie wird sich das auf das Kräfteverhältnis in der Großen Koalition auswirken?

Hassel: SPD-intern hat Gabriel jetzt freie Hand. Selbst wenn die Fraktion größere Kröten schlucken muss, wird es ihr sehr schwer fallen, sich darüber zu beschweren. Gabriel kann jetzt immer sagen: Wir haben ein breites Mandat, die Basis steht hinter mir. Und diese Karte wird er auch spielen, dass die Partei ihm einen Regierungsauftrag für die nächsten vier Jahre gegeben hat und daran auch keiner zu rütteln hat. Solche Querelen in der Fraktion wie bei Gerhard Schröder unter Rot-Grün wird es nicht geben. Gabriel kann gestärkt in diese Regierung gehen.

In der Koalition wird ihm das aber nicht viel nützen. Gegenüber Frau Merkel wird er für seine Inhalte hart kämpfen müssen, und das wird durch den Mitgliederentscheid nicht leichter. In der Öffentlichkeit ist in der letzten Zeit der Eindruck entstanden, dass das, was die SPD im Koalitionsvertrag ausgehandelt hat, auch alles umgesetzt wird. Dem ist nicht so. Wenn beispielsweise die Konjunktur sich verändert, werden auch einzelne Punkte des Koalitionsvertrags wieder in Frage gestellt werden.

"Viele Stolpersteine für Gabriel"

tagesschau.de: Wie wird sich Gabriel gegenüber Merkel in den kommenden vier Jahren positionieren? Er dürfte sich ja bereits als Kanzlerkandidat der SPD warmlaufen wollen.

Hassel: Wer der künftige Kanzlerkandidat der SPD wird, wird in drei Jahren entschieden. Bis dahin kann noch viel passieren und Gabriel wird sich beweisen müssen. Da sind noch viele Stolpersteine im Weg, der Mindestlohn könnte verunglücken oder auch die Lebensleistungsrente. Und die CDU hat ja kein Interesse daran, der SPD zu einer guten Ausgangsposition für die nächste Wahl zu verhelfen.

Ein vier Jahre währendes Gerangel zwischen Gabriel und Merkel wird es aber nicht geben. Für die SPD ist die viel wichtigere Frage, ob sie NRW halten kann. Zwar gibt es dort mit Kraft eine populäre Ministerpräsidentin, aber dem Landeshaushalt und den Kommunen geht es sehr schlecht. Die große Aufgabe für Gabriel in den nächsten drei Jahren wird sein, NRW wieder auf die Füße zu bekommen und eine positive Grundstimmung zu erzeugen, damit Kraft dort in gut drei Jahren die Wahl gewinnt. Erst dann kann die SPD daran denken, einen erfolgreichen Bundestagswahlkampf zu führen.

tagesschau.de: Als Minister für die Energiewende wartet auf Gabriel zudem eine schwierige Aufgabe. Geht er damit nicht ein sehr hohes Risiko ein?

Hassel: Bei der Energiewende gibt es viele Fallstricke und Unwägbarkeiten, das ist schon ein großes Risiko für ihn. Er muss sich jetzt zum ersten Mal wirklich unter Beweis stellen. In der letzten Großen Koalition als Umweltminister hatte er es vor allem mit Wohlfühlaufgaben zu tun und musste nicht wirklich politische Konflikte eingehen. Sein Erfolg hängt ja auch davon ab, ob Merkel mitmacht und möchte, dass er reüssiert. Ich denke, die nächsten vier Wochen werden hier zentral sein. Gabriel muss jetzt zeigen, ob er den richtigen Ton findet, um sich gegenüber der Wirtschaft und den anderen Akteuren zu positionieren.

"Mütterrente teurer als alle Zukunftsinvestitionen zusammen"

tagesschau.de: Durch Wahlkampf und langwierige Regierungsbildung lagen viele Projekte brach. Welche Aufgaben muss die Koalition jetzt am dringendsten anpacken?

Hassel: Eines der größten Themen dieser Koalition ist meines Erachtens eines, über das sehr wenig gesprochen wird. Nämlich die Frage des Finanzföderalismus, also wie wird das Zusammenspiel zwischen Kommunen, Ländern und Bund künftig aussehen? Das ist alles andere als zukunftsfest. Zwar haben wir die Schuldenbremse, aber wie sich das auf die Finanzpolitik auswirkt, auf das Verhältnis von Steuerpolitik und Sozialversicherung, ist völlig ungeklärt. Mit diesem Problem hat die Bundesregierung ja schon seit zehn Jahren zu kämpfen und es tut sich nichts. Die Kommunen sind immer wieder bankrott, es fehlt an Zukunftsinvestitionen.

Im Koalitionsvertrag wird das notdürftig übertüncht mit einigen Investitionen in Bildung und Forschung. Aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir werden mehr für die Mütterrente ausgeben als für alle Zukunftsressorts zusammen. Zwar wird es wieder eine Kommission geben, die sich mit Bund-Länder-Beziehungen beschäftigt, aber von Entschlossenheit, dieses Problem anzugehen, ist im Koalitionsvertrag keine Spur. Das ist die große Baustelle der nächsten vier Jahre - und ich kann hier keinen Aufbruch erkennen, weil niemand wirkliche Lösungsvorschläge hat.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de