Hintergrund

Hintergrund Das Inzest-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Stand: 12.04.2012 09:56 Uhr

Im Jahr 2008 hat das Bundesverfassungsgericht das Inzest-Verbot im deutschen Strafgesetz bestätigt. Bei Inzestverbindungen zwischen Geschwistern könne es zu "schwerwiegenden familien- und sozialschädlichen Wirkungen" kommen, etwa durch eine Überschneidung von Verwandtschaftsverhältnissen. Das Inzestverbot sei deshalb zur "Bewahrung der familiären Ordnung" notwendig, argumentierten die Karlsruher Richter. Der Paragraf 173 des Strafgesetzbuches (StGB), der den "Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern" mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht, blieb damit in Kraft.

Wörtlich heißt es in der Begründung unter anderem:

"Der Beischlaf zwischen Geschwistern betrifft nicht ausschließlich diese selbst, sondern kann in die Familie und die Gesellschaft hinein wirken und außerdem Folgen für aus der Verbindung hervorgehende Kinder haben."

Dem Senat erschienen - wie den beauftragten Gutachtern - folgende Wirkungen plausibel:

"...ein vermindertes Selbstbewusstsein, funktionelle Sexualstörungen im Erwachsenenalter, (...) Schwierigkeiten, eine intime Beziehung aufzubauen und aufrechtzuerhalten, Versagen im Arbeitsumfeld, eine generelle Unzufriedenheit mit dem Leben, starke Schuldgefühle, belastende Erinnerungen an die Inzesterfahrung, (...) sowie indirekte Schäden, auch für dritte Familienmitglieder, zum Beispiel durch Ausgrenzung oder soziale Isolation."

"...Inzestverbindungen - auch solche zwischen Geschwistern - führen (...) zu einer Überschneidung von Verwandtschaftsverhältnissen und sozialen Rollenverteilungen und damit zu einer Beeinträchtigung der in einer Familie strukturgebenden Zuordnungen. (...) Es erscheint schlüssig und liegt nicht fern, dass Kinder aus Inzestbeziehungen große Schwierigkeiten haben, ihren Platz im Familiengefüge zu finden und eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren nächsten Bezugspersonen aufzubauen."

"Im medizinischen und anthropologischen Schrifttum wird auf die besondere Gefahr des Entstehens von Erbschäden hingewiesen und teilweise angenommen, diese sei bei Verbindungen zwischen Bruder und Schwester noch gravierender als bei Verbindungen zwischen Vater und Tochter. (...) Vor diesem Hintergrund kann das strafbewehrte Inzestverbot auch unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Erbschäden nicht als irrational angesehen werden. Die ergänzende Heranziehung dieses Gesichtspunktes zur Rechtfertigung der Strafbarkeit des Inzests ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil er historisch für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht worden ist."

Sondervotum des Vorsitzenden Richters

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erging mit 7:1 Stimmen. Seinerzeit hatte der damalige Vorsitzende Richter des Zweiten Senats, Winfried Hassemer, mit einem Sondervotum für Aufsehen gesorgt. Die strafrechtliche Vorschrift verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, meinte Hassemer. Es spreche viel dafür, dass die Bestimmung "lediglich Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge hat".

Scharf monierte Hassemer, dass seine sieben Richterkollegen auch "eugenische" Gesichtspunkte herangezogen hatten. Diese hatten argumentiert, dass das strafrechtliche Inzestverbot ein Instrument zum Schutz der "Gesundheit der Bevölkerung" sei. Denn beim Inzest gebe es eine besondere Gefahr von Erbschäden. Nach Auffassung Hassemers ist diese Argumentation "absurd". Das deutsche Recht kenne eine Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs "selbst dort nicht, wo die Wahrscheinlichkeit behinderten Nachwuchses höher ist und die erwartbaren Behinderungen massiver sind als beim Inzest".