Interview

Angriffe auf westliche Botschaften in arabischen Ländern "Wir müssen die Erziehung zum Hass endlich stoppen"

Stand: 14.09.2012 17:08 Uhr

Warum sorgt der islamfeindliche Film "Innocence of Muslims" für derartigen Aufruhr? Er sehe "ein Kräftemessen zwischen archaischen und modernen Strömungen", sagt Autor Abdel-Samad im Interview mit tagesschau.de . Die Erziehung zum Hass in der muslimischen Welt müsse gestoppt werden. Der Westen dürfe nicht mit Gegengewalt antworten.

tagesschau.de: Verstehen Sie die Empörung, die der Film "Innocence of Muslims"auslöst?

Hamed Abdel-Samad: Ich verstehe die Empörung. Und der Film will ja genau dies provozieren. Was ich nicht verstehe, ist die Dimension der Wut. Die Muslime müssen lernen zu akzeptieren, dass mehr als sechs Milliarden Menschen keine Muslime sind. Und dass nicht jeder dieser sechs Milliarden den Propheten Mohammed achtet. Hinter dem Film wird von vielen Muslimen kein Einzeltäter gesehen, sondern er steht für den gesamten Westen und dessen Geisteshaltung. Es fehlt die Erkenntnis, dass die US-Regierung solche Filme nicht in Auftrag gibt und auch nicht verhindern kann. Es fehlt die vernünftige Reflexion darüber, dass die große Mehrheit der Menschen in den westlichen Kulturen anders denkt als diese paar fanatischen Spinner. Da gibt es noch viel Aufklärungsbedarf.

Hintergrund

Hamed Abdel-Samad wurde 1972 in Ägypten geboren. Er studierte Englisch und Französisch in Kairo und Politik in Augsburg. Er lehrte bis 2009 am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Der Untergang der islamischen Welt: Eine Prognose".

"Gezielte Verbreitung des Films durch die Islamisten"

tagesschau.de: Spielt es eine Rolle, woher der Film kommt?  

Abdel-Samad: Das spielt eine große Rolle, denn die Frage ist nicht, wie der Prophet beleidigt wird, sondern wer ihn beleidigt. Wenn es beleidigende Darstellungen des Koran oder des Propheten auf den Philippinen oder in China gibt, dann wird das in der arabischen Welt komplett ignoriert. Wenn so etwas aus der westlichen Welt kommt, besonders aus den USA, dann sorgt es für Wut und Empörung. In den Medien wurden zusätzlich Gerüchte gestreut, es handele sich bei dem Filmemacher um einen Israeli. Das heizt die Stimmung zusätzlich an. 

tagesschau.de: Der Film tauchte kurz vor dem 11. September in der arabischen Welt auf. Ist das Zufall?

Abdel-Samad: Der Film existierte im Internet schon länger. Aber er wurde jetzt durch den amerikanischen Pastor Terry Jones promotet, der ja bekannt ist für seine Koran-Verbrennungen. Dies gab zusätzlich Zündstoff. Und dann wurde er ganz gezielt in islamischen Medien verbreitet. Der einzige Fernsehsender, der längereTeile des Films gezeigt hat, war nicht ein westlicher TV-Sender, sondern der salafistische Satellitenkanal Al-Nas, den in der arabischen Welt Millionen Menschen sehen. Ganz gezielt wird hier also die Stimmung angeheizt - von Fanatikern auf beiden Seiten. Der Angriff auf den US-Botschafter in Benghasi  war ja eine ganz gezielte und gut vorbereitete Aktion bewaffneter Islamisten. Man hat die Protestwelle genutzt für eigene Rachefeldzüge: um einen lang geplanten Mord zu begehen.

"Wir müssen die Erziehung zum Hass endlich stoppen"

tagesschau.de: Haben wir es bei der Protestwelle mit einer Massenbewegung zu tun?

Abdel-Samad: Nein, es ist keine Massenbewegung, wenn 2000 Ägypter vor der US-Botschaft protestieren in einem Land, in dem 85 Millionen Menschen leben, in einer Stadt, wo fast 18 Millionen Menschen wohnen. Es handelt sich um eine Minderheit von Menschen, die mit Wut reagieren, weil sie nichts anderes gelernt haben. Und weil in den Medien der Hass gegenüber dem Westen geschürt wird. Wir müssen die Erziehung zum Hass in der muslimischen Welt endlich stoppen.

tagesschau.de: Warum gibt es keine Massendemonstrationen gegen die Gewalttäter?

Abdel-Samad: Die Betroffenheit über die Hasstiraden dieses Films ist eben doch zu groß. Aber immerhin gibt es in den arabischen Ländern eine heftige Debatte über die Proteste. Die Gewalt wird in vielen Medien und von vielen Seiten scharf kritisiert. Viele Menschen in der arabischen Welt beklagen, dass nicht der Film das Image der Muslime zerstört, sondern die Bilder von Gewalt und Hass, die dieser Tage um die Welt gehen. Denn diese Aktionen bestätigen ja nur das Zerrbild solcher Filme oder auch der Mohammed-Karikaturen, die es vor Jahren gab. Über diese Fragen wird im Internet, in den Medien, auf der Straße heftig diskutiert. Und das zeigt, dass sich in der arabischen Welt nach dem Sturz der verschiedenen Regime eine Debatten-Kultur entwickelt, die ja eine wichtige Stütze der Demokratie ist. Das stimmt mich, bei aller Besorgnis über die Gewalt in diesen Tagen, optimistisch.

"Kräftemessen zwischen archaischen und modernen Strömungen"

tagesschau.de: Sie haben für die Revolution in Ägypten gekämpft. Mit welchen Gefühlen verfolgen Sie, was sich dieser Tage dort abspielt?

Abdel-Samad: Ich wäre naiv zu erwarten, dass 60 Jahre Diktatur in zwei Jahren überwunden werden können und eine intakte Demokratie entsteht. Viele kulturelle Konflikte, die während der Diktaturen nicht aufbrechen konnten, werden nun ausgetragen. Wir erleben ein Kräftemessen zwischen den archaischen und den modernen gesellschaftlichen Strömungen. Und der Ausgang dieses Kulturkampfes wird zeigen, ob Länder wie Ägypten sich Richtung Demokratie entwickeln oder in politischer Verwahrlosung.  

tagesschau.de: Sie haben in Ihrem Buch vor drei Jahren den Untergang der islamischen Welt prognostiziert. Was sagen Sie heute?

Abdel-Samad: Damals habe ich gefordert, dass die islamischen Gesellschaften sich von innen heraus erneuern müssen - kulturell und wirtschaftlich; dass die arabische Welt also den Sprung in die Moderne schaffen muss. Und ich habe prognostiziert, dass die jungen Menschen auf die Straße gehen werden und der Staat die Kontrolle verliert. All das ist in vielen Ländern tatsächlich geschehen. Jetzt sind wir in einer sehr spannenden Übergangsphase. Steht die arabische Welt vor dem Umbruch oder dem Zusammenbruch? Werden sich die Gesellschaften in Richtung Demokratie und Toleranz entwickeln? Endet die kollektive Erziehung zu Hass und Ignoranz? Schafft die arabische Welt den Weg ins 21. Jahrhundert mit einer gesunden Kommunikation mit der Welt? Es muss doch endlich aufhören, dass Muslime die Welt in Gläubige und Ungläubige und damit in Gut und Böse unterteilen. Wenn die arabische Welt das nicht schafft, dann ist die These vom Untergang wieder hoch brisant.

"Der Westen darf jetzt nicht mit Gegengewalt reagieren"

tagesschau.de: Welche Mitschuld trägt der Westen an dieser Eskalation von Gewalt?

Abdel-Samad: Die muslimische Welt unterteilt die Menschen in Gläubige und Ungläubige. Der Westen unterteilt die Menschen in Zivilisierte und Barbaren. Der Westen blickt mit vielen Vorurteilen und Ressentiments in die arabische Welt. Er sieht nicht die Chancen und Zwischentöne und will seine Kultur der arabischen Welt überstülpen statt die Differenzen anzuerkennen. Ich glaube, der Islam ist für den Westen so etwas wie ein ungeliebter Blick in die eigene historische Vergangenheit. Im Westen gab es Religionskriege, Fanatismus, Ketzerei. Und das wird teilweise auf die arabische Welt projiziert und sorgt für Hysterie. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Zuge der Globalisierung auch im Westen viele Ängste und Unsicherheiten aufbrechen. Die Angst, die eigene Identität zu verlieren, sorgt für starre Urteile. Und dazu kommt natürlich, dass der Westen politisch viel zu lange die alten Diktaturen gestützt hat - aus wirtschaftlichen und politischen Stabilitätsinteressen und aus Angst vor einer eigenständigen Entwicklung der arabischen Welt.

tagesschau.de: Was kann die Situation derzeit beruhigen?

Abdel-Samad: Die gemäßigten und vernünftigen Kräfte in den arabischen Ländern müssen wieder die Oberhand gewinnen. Die Islamisten müssen aufhören, die Stimmung weiter anzuheizen. Und die westliche Welt muss sich in Zurückhaltung üben und nicht mit Gegengewalt agieren.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.