Interview

Interview zum Detmolder NS-Prozess "Mord verjährt nicht"

Stand: 10.02.2016 18:00 Uhr

71 Jahre sind seit Kriegsende vergangenen. Auch nach der langen Zeit stoßen die Ermittler auf neue Fälle. Oberstaatsanwalt Andreas Brendel erklärt im tagesschau.de-Interview, warum erst jetzt manche mutmaßliche Täter vor Gericht stehen.

tagesschau.de: Der 94-jährige Angeklagte wird der Beihilfe an 170.000-fachen Mord angeklagt. Er war als SS-Mann in Auschwitz eingesetzt. Wie kommen Sie jetzt auf die Zahl 170.000?

Andreas Brendel: Wir haben die Transporte, die im Rahmen der Ungarn-Aktion von Ungarn aus nach Birkenau erfolgt sind, das heißt dort sind von Ungarn aus Juden nach Auschwitz deportiert worden. Diese Transportlisten und -bücher haben wir ausgewertet und dann die Zahlen zusammengezogen. So sind wir dann auf diese Zahl gekommen.

Andreas Brendel, Leiter der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen
Zur Person:

Andreas Brendel Leiter der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen.

tagesschau.de: Warum mussten Sie sich dieses etwas singuläre Ereignis herauspicken?

Brendel: Weil es darauf ankam, dass man nach der Rechtsprechung eine abgegrenzte Haupttat hat, das heißt man muss einen abgegrenzten Zeitraum haben. Allein die Judenvernichtung zum Beispiel überhaupt oder aber Auschwitz reicht zur Begründung einer Haupttat nicht aus. Beihilfe bedeutet die Unterstützung einer Haupttat. Ich muss also auch vorher die Haupttat feststellen.

Wie kann man die Verbrechen jetzt noch beweisen?

tagesschau.de: Der Angeklagte leugnet ja nicht, in Auschwitz gewesen zu sein. Aber er sagt, er hätte von nichts gewusst und er sei vor allem nicht beteiligt gewesen. Wie wollen Sie ihm jetzt trotzdem das Gegenteil beweisen?

Brendel: Es gibt unterschiedliche Ansätze. Einmal natürlich seine eigene Aussage, dass er in Auschwitz gewesen sei. Er habe zwar von den Tötungshandlungen nichts mitbekommen. Da müssen wir dann Schlussfolgerungen ziehen. Einmal aus dem System des Lagers. Nämlich, dass das Lager frei einsehbar ist, zumindest zum großen Teil. Wie sind Wachleute dort eingesetzt gewesen? Aber auch mit dem Umstand, dass er sich zweieinhalb Jahre in Auschwitz aufgehalten hat beziehungsweise dort eingesetzt gewesen ist. Dieser Umstand deutet sicherlich darauf hin, dass er diese Tötungshandlungen, die wir im jetzt zur Last gelegt haben, mitbekommen haben muss.

tagesschau.de: Die Befreiung von Auschwitz hat sich vor kurzem zum 71. Mal gejährt. Jetzt, mehr als 71 Jahre später, dieses Verfahren: Warum hat das so lange gedauert?

Brendel: Das hat für mich selbst so lange gedauert, weil ich erst im Jahre 2014 von diesem Verfahren erfahren beziehungsweise auch von diesem Angeklagten erfahren habe. Das sind die Gründe, warum wir hier in Dortmund erst jetzt Anklage erhoben haben. Dass das grundsätzlich so lange dauerte, hat sicherlich etwas mit der Rechtsprechung der sechziger Jahre zu tun. Der Demjanjuk-Prozess in München, hat dann dazu geführt, dass die Zentrale Stelle in Ludwigsburg die Listen erneut ausgewertet hat.

"Mord verjährt nicht"

tagesschau.de: Macht es denn überhaupt Sinn, einen 94-Jährigen noch anzuklagen?

Brendel: Da gibt es zwei Aspekte, die eine Rolle spielen. Zum einen der juristische Aspekt. Das ist: Mord verjährt nicht. Als Staatsanwalt bin ich aufgrund des Legalitätsgrundsatzes verpflichtet, diese Straftaten zu verfolgen. Und dann gibt es noch den moralischen Aspekt. Wir sind es den Angehörigen und den Opfern selbst schuldig, diese Straftaten auch heute noch zu verfolgen. Wenn man nämlich mal berücksichtigt, was die Nazis angerichtet haben, welche Arten von Tötungen, wieviele Tötungen sie begangen haben aus sehr perfiden Gründen, dann müssen wir diesen Dingen auch heute noch nachgehen.

Das Interview führte Michael Heussen, WDR Köln.