Interview

Gutachten zu Asylverfahren in Deutschland "Der Bearbeitungsstau ist europaweit einmalig"

Stand: 31.07.2015 17:23 Uhr

Knapp 240.000 unbearbeitete Asylanträge schiebt Deutschland derzeit vor sich her. Zu diesem Ergebnis kommt der Migrationsforscher Thränhardt in einem Gutachten. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, wie es dazu kommt und was andere besser machen.

tagesschau.de: Derzeit gibt es eine viertel Million unbearbeitete Asylanträge in Deutschland. Im ersten Halbjahr 2015 ist der Bearbeitungsstau um 40 Prozent gestiegen. Was läuft falsch?

Dietrich Thränhardt: Das Hauptproblem ist: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kommt nicht hinterher. Von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat wird der Stau größer. Die Anträge werden von sogenannten "Entscheidern" bearbeitet, und davon gibt es zu wenige. Im Mai hatte die Koalition dem BAMF 2000 neue Stellen versprochen, aber das Bundesinnenministerium ist mit der Umsetzung sehr zögerlich. So kann man den Bearbeitungsstau nicht abarbeiten. Er ist einmalig in Europa.

Zur Person

Dietrich Thränhardt ist emeritierter Professor für Migrationsforschung an der Universität Münster. In einem Gutachten für den Mediendienst Integration prangert er das deutsche Asylsystem als ineffizient an. Der enorme Bearbeitungsstau bei deutschen Anträgen, sei europaweit einmalig.

tagesschau.de: Abgesehen von der Personalfrage im Bundesamt - was müssen wir an unserem bestehenden Asylverfahren verbessern?

Thränhardt: Die Ressourcen, die das Bundesamt für Migration hat, müssten gezielt eingesetzt werden, um die Verfahren zu bearbeiten und nicht vorrangig andere Dinge zu machen. Ein großes Problem sind zum Beispiel die Widerrufsverfahren. Zurzeit wird nach drei Jahren jeder bewilligte Antrag noch einmal überprüft - und zwar anlasslos. Dieses Vorgehen gibt es nur in Deutschland, und das nimmt viele Ressourcen in Anspruch. In den wenigsten Fällen wird der Flüchtlingsstatus widerrufen. Es ist völlig sinnlos, und der Antragsberg wächst währenddessen weiter. 

Auch das europäische Verteilungsverfahren, das Dublin-System, wonach Erstanträge nur in dem EU-Land gestellt werden dürfen, welches zuerst betreten wurde, belastet das Bundesamt. Insgesamt wurden 2014 über 35.000 Überstellungen beantragt, doch nur in 14 Prozent der Fälle kam es dazu. Das rechtfertigt nicht den Aufwand.

Niederlande: Rechtsanwälte schon während des Asylverfahrens

tagesschau.de: Sie sagen, Deutschland sei Schlusslicht in Europa. Was machen andere Länder besser?

Thränhardt: Viele andere Länder statten ihre Ämter mit ausreichend Personal aus. Eine Ironie der Geschichte ist, dass sich der Stau etwa in Griechenland verringert hat, weil die Europäische Union dort Entscheider hingeschickt hat, während der Stau in Deutschland angewachsen ist.

tagesschau.de: Was könnte man darüber hinaus noch am System ändern?

Thränhardt: Die Schweiz und die Niederlande etwa haben ihr System reformiert, die Verfahren schneller und besser gemacht, und es kommt dort zu weniger Revisionen. In den Niederlanden etwa werden 80 Prozent der Fälle binnen einer Woche entschieden. Gleichzeitig werden den Flüchtlingen Rechtsanwälte zur Seite gestellt, damit auch die Rechte der Flüchtlinge ausreichend wahrgenommen werden. Bei uns treten die Rechtsanwälte erst nach den Verfahren auf, und dann gibt es viele Revisionen. Das dauert dann entsprechend länger.

tagesschau.de: 2014 wurden Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien zu "sicheren Herkunftsstaaten" erklärt mit dem Ziel, die Zahl der Asylbewerber aus diesen Ländern zu senken. Was ist das Ergebnis bislang?  

Thränhardt: Die Erklärung dieser drei Länder zu sicheren Herkunftsstaaten hat kaum etwas verändert. Die Praktiker im Bundesamt sagen, die Bearbeitungszeit habe sich gerade mal um zehn Minuten verkürzt. Und die Antragszahlen von Menschen aus diesen Ländern sind nach wie vor sehr hoch. Die Menschen bleiben verhältnismäßig lange hier. Jeder Antrag aus einem "sicheren Herkunftsstaat" muss nach unserer Rechtslage dennoch einzeln bearbeitet werden. Und selbst wenn manche in einem Schnellverfahren bearbeitet werden, führt das wiederum dazu, dass andere Gruppen warten müssen, etwa Flüchtlinge aus Afghanistan oder dem Iran.

Das Interview führte Marie von Mallinckrodt, BR, ARD-Hauptstadtstudio.

Hintergrund: Asyl und Zuwanderung

Das Recht auf Asyl ist ein Grundrecht - verankert im Artikel 16 a des Grundgesetzes. Wer in seiner Heimat politisch verfolgt wird, darf in Deutschland Zuflucht suchen. Ob jemand Asyl bekommt, hängt alleine von der politischen Verfolgung ab und nicht von anderen Faktoren wie Ausbildung, Sprachkenntnissen oder Familienstand. Auch gibt es keine Beschränkung oder eine Art Obergrenze dafür, wie vielen Menschen Deutschland Schutz gewährt.

Bei Menschen, die aus anderen Zwecken - etwa zum Arbeiten - nach Deutschland kommen, hat der Staat dagegen durchaus Möglichkeiten, steuernd einzugreifen. Er kann zum Beispiel vorschreiben, dass jemand einen Arbeitsvertrag, eine Sprachprüfung oder ein Mindestgehalt vorweisen muss. So gibt es auf der einen Seite Beschränkungen und auf der anderen Seite spezielle Anreize zur Arbeitsmigration. Bei dieser Zuwanderung handelt sich nicht um ein unverrückbares Grundrecht wie beim Asyl. Für EU-Bürger gibt es keine Beschränkungen, für sie gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Das Asylsystem ist von anderen Zuwanderungswegen strikt getrennt. Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, kann nicht einfach aus diesem Verfahren ausscheren und ein Arbeitsvisum beantragen.

Das Interview führte Marie von Mallinckrodt, ARD Berlin