Interview

Sozialwissenschaftler kritisiert die neuen Hartz-IV-Regelsätze "Man muss auch mal ein Bier trinken dürfen"

Stand: 28.09.2010 11:22 Uhr

"Griff in die Trickkiste", "sozialer Kahlschlag" - die Empörung über die geplanten Hartz IV-Regelsätze ist groß. Die Koalition kontert: Die neuen Sätze seien sachgerecht. Sie würden helfen, die Menschen wieder in die Arbeit zu führen. "Das Gegenteil ist der Fall" meint Sozialwissenschaftler Horn.

tagesschau.de: Sichern die geplanten Hartz-IV-Regelsätze das Existenzminimum?

Gustav A. Horn: Ich habe große Zweifel daran, denn man hat aus den Berechnungen Wesentliches herausgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu Hartz IV angemahnt, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben müsse gewährleistet sein. Dazu gehört, dass man sich mal ein Buch kaufen oder ins Kino gehen kann. Dazu gehört aber auch, dass man mal ein Bier trinken darf. Dies wurde heraus genommen mit der sehr populistischen Begründung, man wolle keinen Rausch finanzieren. Aber bei den bisherigen Regelsätzen kann doch nicht von Finanzierung von Rausch die Rede sein.

tagesschau.de: Im Gegenzug wurden jetzt die Sätze für Mineralwasser, Internet-Zugang und Praxisgebühr erhöht. Ist das nicht eine sehr sinnvolle Neugewichtung?

Horn: Es geht nicht darum, was der Staat für sinnvoll hält, sondern darum: Kann der Arbeitslose am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Und um dies beurteilen zu können, muss man analysieren, was andere Menschen mit niedrigem Einkommen für Bedürfnisse haben. An diesem Konsumverhalten muss man sich orientieren. Was der Staat gut oder schlecht findet, steht auf einem anderen Papier.

Zur Person

Professor Gustav A. Horn ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans Böckler Stiftung in Düsseldorf. Der Ökonom beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen des Sozialstaats und der sozialen Gerechtigkeit.

tagesschau.de: Es soll aber, so das politische Ziel, das Lohnabstandsgebot gewahrt werden. Der, der arbeitet, soll mehr in der Tasche haben, als derjenige, der keine Arbeit hat. Ist das nicht ein richtiger Ansatz?

Horn: Natürlich ist das richtig. Vorrang hat aber das Existenzminimum. Genau das hat das Verfassungsgericht mit seiner Entscheidung zu Hartz IV klargemacht. Es ist ein Verfassungsbruch, wenn dieses nicht gewährleistet ist. Wirtschaftspolitisch gesehen ist auch das Lohnabstandsgebot wichtig. Nach unserer Analyse liegt das Problem bei den Löhnen. Wir haben seit Jahren einen massiven Lohndruck gerade im Bereich der kleinen Einkommen. Wir bräuchten also den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, um das Lohnabstandsgebot zu gewährleisten.

tagesschau.de: Stimmt die gängige Auffassung, Langzeitarbeitslose seien in der Mehrheit "Drückeberger", die gar nicht arbeiten wollen?

Horn: Das Gegenteil ist der Fall. Die ganz große Mehrheit der Arbeitslosen - etwa 90 Prozent - würden sehr gerne arbeiten, sie leiden unter ihrer Situation und suchen oft geradezu verzweifelt nach einem Job. Diejenigen, die sich der Arbeit entziehen, gehören zu einer sehr kleinen Randgruppe. In der öffentlichen Diskussion allerdings versucht man immer wieder, ein anderes Bild zu erzeugen.

tagesschau.de: Führen höhere Hartz-IV-Sätze zu einer niedrigeren Arbeitsmoral?

Horn: Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass die Menschen über das Arbeitsleben gesellschaftliche Bestätigung bekommen und diese auch brauchen. Die Menschen wollen arbeiten. Diesem Wunsch stehen aber Hindernisse entgegen wie die mangelnde Qualifikation und auch soziale Probleme.

tagesschau.de: Die Bundesregierung will den Druck auf Arbeitslose erhöhen, sich einen Job zu suchen. Gibt es denn auf dem Arbeitsmarkt genügend Jobs für die Langzeitarbeitslosen?

Horn: Das ist eine weitere Illusion - durch Druck die Menschen in Arbeit zu bringen, als würden auf diese Weise noch Arbeitsplätze geschaffen. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, in denen wir immer noch sind, gibt es genau diese Arbeitsplätze nicht. Der Druck geht also ins Leere.

tagesschau.de: Die Opposition läuft Sturm gegen die neuen Regelsätze. Hartz IV wurde aber von Rot-Grün ins Leben gerufen. Ist das nicht doppelzüngig?

Horn: Wir haben schon lange angemahnt, dass die Regelsätze zu niedrig sind und dass es zu einer Anpassung kommen muss. Dass die Opposition bei ihren jetztigen Statements Begründungsschwierigkeiten hat, ist klar.

tagesschau.de: Gesundheitsreform einerseits, neue Hartz-IV-Regelsätze andererseits - wohin steuert die Bundesregierung?

Horn: Die Bundesregierung schärft ihr Profil. Neoliberale Gedanken gewinnen die Oberhand. Das verschärft die Konfliktsituation im Land. Ich bin gespannt, ob die Koalition ihren Kurs angesichts wachsender Proteste durchhält.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de