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Interviewserie 60 Jahre Grundgesetz "Der Staat darf das Augenmaß nicht verlieren"

Stand: 17.05.2009 11:09 Uhr

Die Bekämpfung des Terrorismus dient als Argument, die Sicherheitsgesetze zu verschärfen. Dabei geraten zunehmend unverdächtige Bürger in den Blick der Sicherheitsbehörden und die Grundprinzipien der Verfassung sind in Gefahr, warnt der liberale Sicherheits- und Innenexperte Baum. Er fordert: Der Staat darf das Augenmaß nicht verlieren.

tagesschau.de: Ist die Geschichte des Grundgesetzes eine Erfolgsgeschichte?

Baum: Ja. Wir leben als Deutsche bewusst und gewollt das erste Mal in einer wirklichen Demokratie. Es ist eine geglückte Demokratie, die wir aufgebaut haben. – bei allen Gefährdungen und Mängeln.

tagesschau.de: Sie sagen "wir" – brauchten die Deutschen nicht  Anschubhilfe von den Alliierten?

Baum: In gewisser Weise ja. Die Freiheit ist uns gebracht worden, wir haben sie nicht erkämpft. Erkämpft haben die Freiheit 1989 die Deutschen in der früheren DDR.

tagesschau.de: Da Sie es gerade thematisieren: Bis zu Wiedervereinigung war das Grundgesetz ja vorläufig. Hätte man nicht nach 1989 das gemeinsame Grundgesetz dem Volk noch einmal zur Abstimmung vorlegen müssen?

Baum: Ja und nein. Das ging alles so schnell und der Druck war groß, zu Ergebnissen zu kommen, so dass ich Verständnis dafür habe, dass man das nicht gemacht hat. Etwas Besseres hätten wir nicht bekommen.

Gerhart Baum

Der liberale Politiker Gerhart Baum (*1932) war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. Von 1972 bis 1994 war er Bundestagsabgeordneter. Seitdem engagiert er sich auf anderer Ebene für die Menschenwürde. So legte er 2003 mit Sabine Leutheusser-Schnarrenber und Burkhard Hirsch erfolgreich Verfassungsbeschwerde gegen den "Großen Lauschangriff" ein. Erfolgreich waren auch Verfassungsbeschwerden gegen das Luftsicherheitsgesetz und die Online-Durchsuchung in Nordrhein-Westfalen.

Glücklich über das sittliche Leitbild

tagesschau.de: Sie sprachen von Gefährdungen des Grundgesetzes. Welche neuralgischen Punkte sehen Sie im Grundgesetz?

Baum: Ich bin sehr glücklich, dass wir zum ersten Mal eine Verfassung haben, die auf einem sittlichen Leitbild beruht, dem Prinzip der Menschenwürde. Wir haben einklagbare Grundrechte; wir haben ein Verfassungsgericht, das über die Verfassungskonformität wacht. Das sind Errungenschaften, die es uns ermöglichen, der zunehmenden Erosion der Grundrechte – vor allem im Bereich der inneren Sicherheit – entgegenzuwirken.

tagesschau.de: Sie meinen die Gesetzgebung zur Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität?

Baum: Wir erleben zurzeit eine Verlagerung vom Prinzip der Freiheit hin zur Sicherheit – und zwar auf Kosten des Grundprinzips unserer Verfassung, der Menschenwürde. Das heißt, unverdächtige Bürger geraten in den Blick der Sicherheitsbehörden. Das ist eine Tendenz, die ich bekämpfe. Es geht auch nicht, dass der Staat bei der Bekämpfung von Kriminalität das Augenmaß verliert. Es gibt eine fatale Tendenz: Sicherheit wird zum Selbstzweck und wird der Freiheit untergeordnet.

Die Grenzen der Verfassung überschritten

tagesschau.de: Können Sie Beispiele nennen?

Baum: Wir haben eine Serie von Verfassungsgerichtsurteilen erstritten, die der Politik deutlich gemacht haben, dass sie die Grenzen der Verfassung überschritten hat. Der Lauschangriff in Wohnungen ist eingeschränkt worden. Der Kernbereich der Privatheit muss respektiert werden. Der Zugriff auf Computer, also die Online-Durchsuchung, ist an rechtsstaatliche Kriterien gebunden worden. Der Abschuss von Passagiermaschinen mit unschuldigen, unbeteiligten  Menschen an Bord ist verboten worden. Jetzt laufen die Beschwerden gegen Vorratsdatenspeicherung und gegen die neuen Befugnisse des Bundeskriminalamtes.

tagesschau.de: Sie haben einige Ihrer Erfolge hinsichtlich der Auslegung des Grundgesetzes genannt. Wann ist etwas schief gelaufen?

Baum: Nicht bestanden worden ist die Bewährungsprobe im Fall des Asylrechts. Der fundamentale Grundsatz, dass politisch Verfolgte Asyl genießen, ist in den 90er Jahren ausgehöhlt worden. Die Politik ist der Volksstimmung gegen Asylbewerber gefolgt. Der fundamentale Grundsatz gilt in der Praxis nicht mehr.

tagesschau.de: Ist unser Grundgesetz durch das Zusammenwachsen Europas, den Lissabon-Vertrag, in Gefahr?

Baum: Ja. Das könnte passieren. Ich bin ein überzeugter Befürworter der europäischen Vereinigung. Ich sehe aber die Gefahr, dass die strikte Grundrechtsorientierung - eine Reaktion auf die Nazi-Barbarei -  abgeschwächt werden könnte. Der Gründungsmythos unseres Grundgesetzes ist eindeutig die tiefe Zäsur zur Nazi-Diktatur. In anderen europäischen Demokratien ist das nicht so. Unsere Verfassungsväter waren alle geprägt von dieser schrecklichen Lebenserfahrung.

Keine europäische Zivilgesellschaft

tagesschau.de: Beziehen Sie sich damit auf die Gefahr, dass wir das Grundrecht auf Verfassungsbeschwerde verlieren, das sie eingangs betont haben?

Baum: Ja, es gibt die Gefahr, dass unser Verfassungsgericht nicht mehr diese Rolle spielt. Dazu kommt, dass der Europäische Gerichtshof seine Bewährung in Grundrechtsfragen noch nicht bestanden hat. Die Gefahr für die Grundrechtsorientierung habe ich schon genannt. Eine dritte Gefahr besteht darin, dass es keine europäische Zivilgesellschaft gibt, die an der europäischen Gesetzgebung mitwirken könnte. Es gibt keine gewachsene europäische Öffentlichkeit, ganz anders als in den Nationalstaaten.

tagesschau.de: Wenn es nur nach Ihnen ginge: Welchen Paragraphen würden Sie dem Grundgesetz hinzufügen, welchen würden Sie ändern?

Baum: Ich würde das Grundgesetz nicht mit Änderungen überziehen.  Die Tendenz, alles ins Grundgesetz zu schreiben, was eigentlich reine Politik ist, halte ich für falsch. Das Grundgesetz muss interpretiert werden im Geiste von 1949. Zum Beispiel brauchen wir kein ausdrückliches Grundrecht auf Datenschutz, denn wir haben eine wunderbare Verfassungsrechtsprechung dazu.

Mein Wunsch: Wir sollten das Grundrecht auf politische Asyl mindestens teilweise wiederherstellen. Und wir sollten auch die Änderungen des Grundgesetzes durch die Notstandsgesetze aus den 60er Jahren überprüfen.

Das Interview führte Nea Matzen, tagesschau.de