Hintergrund

Gewalt gegen Frauen in Deutschland Es reicht nicht, wenn das Opfer "Nein" sagt

Stand: 14.02.2013 00:07 Uhr

Eine Milliarde Frauen weltweit sind schon Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden. "One Billion Rising - eine Milliarde stehen auf" - so heißt daher der heutige weltweite Aktionstag. Auch in Deutschland kommt Gewalt gegen Frauen öfter vor, als viele denken. Ein Überblick über Hintergründe und Rechtslagen.

Von Anna-Mareike Krause, tagesschau.de

Es war ein kommunalpolitischer Vorstoß, der Maria Braig dazu brachte, sich "One Billion Rising" anzuschließen: Ende Dezember wollte die Verwaltung in Osnabrück Frauenhaus-Bewohnerinnen für ihren Aufenthalt dort zahlen lassen. "Es heißt immer: In Indien oder in der arabischen Welt ist alles ganz furchtbar - aber hier geht es den Frauen ja wunderbar." Das wollte sie so nicht stehen lassen, denn auch in Deutschland sind Millionen Frauen von Gewalt betroffen.

"One Billion Rising" - "eine Milliarde stehen auf". Braig organisiert den Aktionstag in Osnabrück. Sie ist damit eine von mehreren hundert Aktivistinnen in Deutschland. In insgesamt 126 Städten haben sich bisher Frauen verabredet, am Valentinstag gegen Gewalt gegen Frauen auf der Straße zu tanzen.

Eine Milliarde Frauen sind weltweit betroffen

Initiatorin ist die US-amerikanische Autorin Eve Ensler, die berühmt geworden ist mit ihrem Theaterstück  "Die Vagina Monologe". Ensler engagiert sich schon lange für vergewaltigte Frauen. Beispielsweise baute sie in der Republik Kongo ein Dorf auf, in dem Opfer sexueller Gewalt Zuflucht finden können. Zu den Unterstützerinnen von "One Billion Rising" gehört unter anderem die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vivane Reding. Die Zahl eine Milliarde steht für die eine Milliarde Frauen weltweit, die nach Schätzung von Amnesty International in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt werden - ein Drittel aller Frauen.

Im September 2004 legte das Bundesfamilienministerium die Studie "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland" vor, eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen mit mehr als 10.000 Teilnehmerinnen. Demnach haben 40 Prozent der befragten Frauen körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlitten. 58 Prozent der Befragten haben unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung erlebt.

Millionen Frauen in Deutschland sind Opfer von Gewalt

Bei rund 42,2 Millionen Frauen in Deutschland sind also mehr als 16 Millionen Frauen Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden, fast 25 Millionen Frauen sind sexuell belästigt worden. Tatsächlich angezeigt wird aber nur ein Bruchteil der Fälle, 2006 waren es beispielsweise bundesweit 8118 Anzeigen wegen Vergewaltigung.

Die Dunkelziffer ist also um ein Vielfaches höher. Die Homepage "ich habnichtangezeigt.wordpress.com" hat es sich zur Aufgabe gemacht, jene Fälle zu dokumentieren, die sonst im sogenannten Dunkelfeld blieben. Frauen berichten hier von sexueller Gewalt innerhalb der Familie, des Freundes- und Bekanntenkreises oder durch den Partner. Fälle, die heute teilweise verjährt sind, oder bei denen sogar Polizeibeamte von einer Anzeige abgeraten haben. Oder bei denen sich die Opfer schlicht nicht getraut haben. Als Grund dafür nennen sie immer wieder: Mir hat niemand geglaubt, man sagte mir, ich solle es einfach vergessen, ich habe mich so geschämt. Oder: Die Polizei hat mir nicht geglaubt.

"Rechtslage in Deutschland ist ein Problem"

Hinzu kommt: Nur durchschnittlich 12,7 Prozent der ermittelten Täter werden nach einer Anzeige auch verurteilt. Viele Opfer schrecken deshalb davor zurück, ihre Geschichte in einem Verfahren wieder und wieder erzählen zu müssen, wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass der Täter am Ende verurteilt wird.

"Wenn das Opfer aussagebereit ist, gibt es zwar eine realistische Chance, den Täter zu überführen", sagt die Saarbrücker Staatsanwältin Sabine Kräuter-Stockton. "Aber das Problem liegt bei der deutschen Rechtslage."

Damit in Deutschland nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen auch strafbar sind, muss mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt sein: Der Täter muss entweder Gewalt angewendet haben, oder damit gedroht haben, oder eine schutzlose Lage des Opfers ausgenutzt haben. Es reicht also nicht, wenn das Opfer klar und deutlich "Nein" sagt. So steht es im §177 des Strafgesetzbuches.

"So einen Einstellungsbescheid schreiben zu müssen, ist furchtbar"

"Es gibt Fälle, in denen die Frau 'Nein' gerufen hat, in denen die Frau den ganzen Akt lang geweint hat - wo also der Mann keinen Zweifel haben konnte, dass diese sexuelle Handlung nicht einvernehmlich ist. Und trotzdem ist es nach deutscher Rechtslage keine strafbare Vergewaltigung", sagt Kräuter-Stockton. "Es ist furchtbar, wenn ich in einem solchen Fall einen Einstellungsbescheid schreiben muss - das tut mir in der Seele weh."

In anderen Ländern ist das anders: In Großbritannien beispielsweise gilt als eine Vergewaltigung, wenn jemand sexuelle Handlungen vornimmt und "die andere Person hiermit nicht einverstanden ist, und der Täter keinen guten Grund für die Annahme hat, dass die andere Person einverstanden ist", heißt es im Gesetzestext. Kurz: In Großbritannien reicht es, wenn das Opfer "Nein" sagt.

"In Deutschland besteht eine Rechtslücke", sagt die Staatsanwältin, "und zwar eine bewusste Rechtslücke. Denn es wird seit Jahren darauf hingewiesen, dass sie besteht." Und nicht nur das: Im Mai 2011 unterzeichnete die Bundesregierung eine Initiative des EU-Rates, nach der nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen unter Strafe gestellt werden sollen. Ratifiziert ist diese bis heute nicht.

Die Mehrheit der Verbrechen passiert in der eigenen Wohnung

Und dabei geschieht die Mehrheit der Gewaltverbrechen dort, wo Frauen sich am sichersten fühlen - und sich deshalb auch schwerer wehren: in der eigenen Wohnung, durch einen Täter, den die Frauen kennen. Mehr als zehn Millionen Frauen haben sexuelle oder körperliche Gewalt durch ihre Partner erlebt.

"Sich wehren ist ja grundsätzlich richtig", sagt Andreas Mayer von der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes. "Es bedeutet aber eher, dass die Frau versuchen sollte, zu flüchten. Alles andere, beispielsweise Tränengas oder Schreckschusspistolen führen bei gewaltbereiten Männern eher zu einer Eskalation." Auch aus Präventionsgründen ginge die Polizei heute konsequent gegen gewalttätige Männer vor und verwiese sie beispielsweise aus der Wohnung. "Das schützt zum einen die betroffene Frau - schreckt aber auch andere Männer ab. Denn es spricht sich rum, dass jemand, der prügelt, die Wohnung verliert."

"Gewalt ist männlich"

Und auch, wenn Gewalt sich nicht gegen Frauen sondern gegen Männer richtet, ist der Täter in 98,1 Prozent der Fälle ein Mann. "Gewalt ist männlich", sagt Mayer, "und kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor."

Die Stadtverwaltung in Osnabrück hat mittlerweile davon Abstand genommen, Frauen, die Opfer von Misshandlung wurden, auch noch für ihren Aufenthalt im Frauenhaus zahlen zu lassen. Für Maria Braig gibt es aber noch genug andere Gründe, sich weiter zu engagieren, "wir brauchen dringend neue Impulse für die Frauenbewegung", sagt sie. Heute wird aber erst mal getanzt.

P. Kolakowski, DLF, 14.02.2013 16:25 Uhr