Eine Erzieherin spielt in einer Kindertagesstätte hinter einer Rollbahn mit Kindern.

Personalnot und Pandemie Kitas vor dem Kollaps?

Stand: 08.02.2022 14:28 Uhr

Bis zu 230.000 Erzieherinnen und Erzieher könnten laut Städtetag in den nächsten Jahren in Deutschlands Kitas fehlen. Der Mangel ist jetzt schon akut. Die Corona-Krise verschärft die Situation.

Von Von Sebastian Grosser, BR 

Die kleinen Stühle stehen umgekehrt auf den Tischen, das Spielzeug liegt in den Kisten, die Kuscheltiere blicken aufgereiht im Regal auf das leere Zimmer. Im evangelischen Kindergarten St. Markus in Regensburg herrscht Ordnung statt Chaos. Pfarrer Moritz Drucker ist von dem Bild aber wenig begeistert. "Es ist schon traurig. Da, wo Kinder toben würden, ist jetzt nichts."

Pfarrer Drucker trägt die Verantwortung für die eigentlich zwei Gruppen umfassende Einrichtung im Regensburger Stadtwesen. Als dann zwei Erzieherinnen fast zeitgleich schwanger wurden und damit nicht mehr arbeiten durften, war für die Hälfte der 50 Kinder plötzlich keine Betreuung mehr möglich. Denn die Anzahl an Betreuungsplätzen ist an die Anzahl von Erzieherinnen und Erziehern gebunden. 

 

Stühle und Spielzeug in einer Kita

Ordnung statt Chaos, aber auch keine spielenden Kinder. Die müssen zu Hause bleiben, weil kein Kita-Personal da ist.

Oma oder Fernseher

Auch der Sohn von Ingrid Erichsen konnte plötzlich nicht mehr in den Kindergarten kommen. "Man hat sich schon rausgeschmissen gefühlt", sagt Erichsen. Ohne Kita-Platz müssen die Eltern ihr Kind jetzt selbst betreuen - neben der Arbeit. "Wir haben zum Glück noch eine Oma. Aber manchmal musste dann auch der Fernseher herhalten. Hilft ja nix."

Der schwierigen Situation für viele Eltern ist sich auch Pfarrer Drucker und die Kindergartenleitung bewusst. Aber die eigenen Möglichkeiten sind begrenzt: Ersatz für ausfallendes Personal zu finden, kann lange dauern. 

"Uns läuft die Zeit davon"

Laut Deutschem Städtetag werden in den kommenden Jahren rund 230.000 Erzieherinnen und Erzieher in Krippen, Kindergärten und Horten fehlen. Gerade in den Städten und ihrem Umland sei die Lage sehr angespannt, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. "Schon jetzt suchen Städte händeringend nach Erzieherinnen und Sozialpädagogen." Für den Deutschen Städtetag müssen daher mehr Berufs- und Quereinsteiger für die Arbeit der Erzieherin oder des Erziehers begeistert oder Fachkräfte aus dem Ausland angeworben werden. "Uns läuft die Zeit davon", warnt Dedy.     

Viele geben auf

Bei vielen hält sich die Begeisterung für den Beruf derzeit in Grenzen, weiß Sonja Seiler, Leiterin des Kindergartens St. Markus in Regensburg. Die 40-Jährige sitzt über dem Dienstplan und versucht, die Lücken zu schließen. "Viele in diesem Beruf geben auf", sagt sie. Oft wegen Überlastung. Schon lange wünschten sich viele ihrer Kolleginnen kleinere Gruppen, was wiederum mehr Personal erfordere. Ein Teufelskreis. Statt Besserung sei jedoch die psychische Belastung derzeit sehr hoch, auch wegen der Corona-Pandemie.

In deutschen Kitas arbeiten derzeit rund 675.650 pädagogische Fachkräfte, davon 68 Prozent als Erziehende. Das seien so viele Beschäftige wie noch nie, teilt das Bundesfamilienministerium auf BR-Anfrage mit. Der "Gute-Kita"-Bericht 2021 bemerkt auch eine leichte Verbesserung beim Personalschlüssel: Rechnerisch kümmert sich derzeit eine Fachkraft um 8,1 Kinder im Alter von über drei Jahren; bei Jüngeren kommt ein Erzieher oder eine Erzieherin auf 3,8 Kinder.

Allerdings gibt es leichte Unterschiede zwischen den Bundesländern: In Baden-Württemberg ist die personelle Ausstellung in Kindergärten vergleichsweise gut (6,4 Kinder pro Erziehende), in Mecklenburg-Vorpommern eher schlecht (12,0 Kinder pro Erziehende).

Maßnahmen teils nicht umgesetzt

Wie sich die Corona-Pandemie konkret auf den Personalschlüssel auswirkt, kann der "Gute-Kita"-Bericht nicht wiedergeben. Die letzte Kinder- und Jugendhilfestatistik wurde im März 2020 durchgeführt. Allerdings spiegeln viele Bundesländer zurück, dass Maßnahmen des "Gute-Kita"-Gesetzes während der Pandemie nicht oder nur teilweise umgesetzt werden konnten; gerade in Bezug auf Personalgewinnung oder Fort- und Weiterbildungen.

Auch das Bundesfamilienministerium sieht daher vielerorts Personalengpässe. Und der Ausbau der Kita-Plätze wird in den nächsten Jahren noch mehr Erzieherinnen und Erzieher erfordern. Einer Studie der TU Dortmund zusammen mit dem Deutschen Jugendinstitut geht davon aus, dass bis 2025 zwischen 20.000 und 72.000 Fachkräfte fehlen werden. Das Familienministerium verweist aber auch auf andere Studien, die einen Personalmangel von mehr als 190.000 Fachkräften in der Kinderbetreuung errechnet haben. "Daher müssen weiterhin mehr Menschen für den Beruf gewonnen und gehalten werden."

Angebot gezielt für Abiturienten

Die Stadt Regensburg zahlt ihren etwa 400 Erzieherinnen und Erziehern eine "Arbeitsmarktzulage" von bis zu 400 Euro monatlich, um Kosten wie die Fahrt zur Arbeit decken. Am zukünftigen Bedarf ändere das wenig, lässt das zuständige Amt für Tagesbetreuung von Kindern durchblicken. Regensburg setzt daher vermehrt auf neue Ausbildungsmodelle.

Florian Melzl lernt an einer städtischen Kita gerade den Beruf des Erziehers. Mal schlichtet er Streit zwischen zwei sich kabbelnden Jungs, mal kämpft er mit den Tücken einer Matschhose und dem Widerwillen des Kindes, sie anzuziehen. Für ihn aber genau der richtige Job. Doch er verstehe, warum sich viele gegen eine fünfjährige Erzieherausbildung entschieden. "Die ist ja fast unvergütet. Man kriegt im dritten und vierten Ausbildungsjahr 450 Euro. Und wer soll davon die Miete bezahlen, gerade in einer Stadt wie Regensburg."

Bei Melzl ist das anders. Der 24-Jährige macht eine Erzieherausbildung mit optimierten Praxisphasen, kurz: "OptiPrax". Mit diesem Modellprojekt werden gezielt Abiturienten angesprochen. Der Vorteil: Statt fünf Jahre müssen die Abiturienten nur eine dreijährige Ausbildung durchlaufen. Und sie werden besser bezahlt: zwischen 1160 und 1330 Euro monatlich. Ob die jetzigen Auszubildenden den zukünftigen Bedarf decken werden, ist aber fraglich. Der Großteil der städtischen Erzieherinnen und Erzieher arbeitet in Teilzeit oder steht kurz vor der Verrentung. 20 Stellen sind aktuell unbesetzt. 

Anspruch auf Ganztagesbetreuung in Gefahr?

Ab dem Schuljahr 2026/2027 gilt bundesweit der gesetzliche Anspruch auf Ganztagesbetreuung in der Grundschule. Für rund eine Million Grundschulkinder braucht es dann zusätzlich Erzieherinnen und Erzieher, sagt Dedy vom Deutschen Städtetag. Andere kommunale Spitzenverbände wie der Bayerische Gemeindetag stellen die Umsetzbarkeit denn auch infrage. Sie fühlen sich von Bund und Land im Stich gelassen.

Erzieher mit Kindern in einer Kita

Die Begeisterung für den Job in Kitas hält sich aufgrund hoher Arbeitsbelastung oftmals in Grenzen

3,5 Milliarden Euro vom Bund

Als Träger vieler Kitas fordern die Kommunen Planungssicherheit. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung verspricht mehr Investitionen für den Ausbau der Kitaplätze und bei Ganztagesangeboten. Zur Rolle der Erzieherinnen und Erzieher findet sich in dem 177 Seiten umfassenden Dokument kein Wort.

Das Bundesfamilienministerium teilt auf BR-Nachfrage mit: Allein für die Ganztagesbetreuung von Grundschulkindern will der Bund insgesamt 3,5 Milliarden Euro an Finanzhilfen bereitstellen. "Davon profitieren im Übrigen auch Arbeitgeber und Kommunen, für die eine gut ausgebaute Kinderbetreuung einen wichtigen Standortfaktor darstellt."

Harter Wettbewerb ums Personal

Pfarrer Drucker von der Regensburger Kirchengemeinde St. Markus muss jetzt Lösungen finden. Doch finanzielle Aufschläge seien bei privaten oder kirchlichen Trägern fast nicht zu finanzieren. Im Wettbewerb ums Personal zieht Drucker daher oftmals den Kürzeren.

Immerhin konnte er nun eine Erzieherin überzeugen, sogar als Vollzeitkraft. Rund zehn Kinder könnten daher in den Kindergarten St. Markus zurückkehren. Doch gute Stimmung will nicht aufkommen: Ein Kind ist positiv auf Corona getestet worden. Wieder muss eine Gruppe zu Hause bleiben.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 Aktuell am 02. Februar 2022 um 07:00 Uhr.