Entscheidung des Verfassungsgerichts Keine Zusatzrechte für die Opposition

Stand: 03.05.2016 17:19 Uhr

"Opposition ist Mist", hat Franz Müntefering einmal gesagt. Opposition ist wichtig, hat das Bundesverfassungsgericht heute bekräftigt. Aber: Anspruch auf zusätzliche Rechte hat sie auch in Zeiten der Großen Koalition nicht.

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Worum geht es?

Rederecht, Anfragen oder Anträge stellen - das sind klassische Rechte der Opposition im Bundestag, um die Regierungsmehrheit zu attackieren und die Regierung zu kontrollieren. Bestimmte Rechte der parlamentarischen Minderheit sind allerdings grundsätzlich an festgelegte Quoren gebunden. Man braucht also eine bestimmte Zahl von Abgeordneten, um sie wahrnehmen zu können.

Nach dem Grundgesetz sind zum Beispiel die Stimmen von einem Viertel der Abgeordneten nötig:

  • Um einen Untersuchungsausschuss einzuberufen
  • Um ein von der Mehrheit beschlossenes Gesetz in Karlsruhe überprüfen zu lassen, ob es verfassungswidrig ist (sogenannte "abstrakte Normenkontrolle")

Ein Drittel der Mitglieder des Bundestages sind zum Beispiel nötig, um einen Antrag auf Einberufung des Bundestages zu stellen.

Das Problem aus Sicht von Grünen und Linkspartei: In dieser Legislaturperiode gibt es eine "Große Koalition" im wahrsten Sinne des Wortes. Selbst gemeinsam erreichen die Oppositionsfraktionen derzeit nicht die Hürde von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages. Zusammen haben Linksfraktion und Grüne rund 20 Prozent, stellen 127 der 630 Abgeordneten.

Meinen die Begriffe "Oppositionsrechte" und „Minderheitenrechte“ dasselbe?

In der Praxis meistens ja, rechtlich aber nicht. Denn die umstrittenen Rechte wie der Untersuchungsausschuss und die Normenkontrolle sind nicht daran gekoppelt, ob Abgeordnete in der Opposition sind oder nicht. Es geht allein darum, mit einer bestimmten Zahl von Abgeordneten das nötige Quorum zu erreichen. Die Unterscheidung zwischen Minderheiten- und Oppositionsrechten spielt im Urteil eine wichtige Rolle.

Welche Vorgeschichte hat die Klage der Linksfraktion?

Die aktuelle Situation wollten Grüne und Linksfraktion nicht auf sich sitzen lassen. Im Januar und März 2014 brachten sie Gesetzesentwürfe in den Bundestag ein, die die Rechte der Opposition auch in dieser Legislaturperiode sichern sollten. Die Entwürfe wurden aber von der Mehrheit im Bundestag abgelehnt. Allerdings: Die Regierungsmehrheit beschloss eine Alternative. Die Geschäftsordnung des Bundestages wurde ergänzt, um einen § 126a ("Besondere Anwendung von Minderheitsrechten in der 18. Wahlperiode"). Danach können zahlreiche Minderheitenrechte im Plenum des Bundestages mit einem Quorum von 120 Abgeordneten ausgeübt werden. Mit einer Ausnahme: Der Antrag auf Normenkontrolle, also die Überprüfung eines Gesetzes in Karlsruhe, ist nicht von der neuen Regelung in der Geschäftsordnung umfasst. Im Ergebnis führt die Ergänzung der Geschäftsordnung nun dazu, dass Linke und Grüne gemeinsam zum Beispiel einen Untersuchungsausschuss beantragen können.

Die Fraktion der Grünen hat es bei den Anträgen im Bundestag belassen, die Linksfraktion ist bis nach Karlsruhe gegangen. Sie hat im Wesentlichen zwei Punkte kritisiert:

  • Eine Reglung in der Geschäftsordnung des Bundestages sei ein "Recht zweiter Klasse". Die Geschäftsordnung müsste man ja jede Legislaturperiode erneut beschließen und entsprechend ergänzen.
  • Das Recht, von der Mehrheit beschlossene Gesetze in Karlsruhe überprüfen zu lassen ("abstrakte Normenkontrolle"), gebe es weiterhin nur ab dem Quorum von 25 Prozent. Dieses Recht stand für die Linke im Mittelpunkt der Klage. Gegen die Gesetze zu Mindestlohn, Tarifeinheit, Mütterrente oder Maut habe man als Opposition zum Beispiel nicht klagen können.

Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden?

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Bundestag nicht verpflichtet ist, für Oppositionsfraktionen zusätzliche spezielle Rechte zu schaffen.

Heißt das, Opposition spielt für das Gericht keine wichtige Rolle?

Nein. Zu Beginn der Begründung gibt es eine längere Passage, die die Bedeutung einer effektiven Opposition für die Demokratie hervorhebt. Die Opposition dürfe bei Ausübung ihrer Rechte nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein. Durch die bestehenden Rechte für Minderheiten und durch Rede- und Antragsrechte gibt es zahlreiche Rechte für die Oppositionsfraktionen.

Wie lautet die Begründung des Gerichts?

Das Gericht sagt: Über die Minderheitenrechte hinaus sei der Gesetzgeber nicht verpflichtet, spezielle Rechte für die Opposition zu schaffen. Es gibt also keinen allgemeinen Grundsatz, dass die Oppositionsfraktionen immer das Recht haben müssen, zum Beispiel gegen ein umstrittenes Gesetz zu klagen, egal wie groß oder klein sie sind.

Das Gericht hat dafür vor allem zwei Argumente:

  • Spezielle Rechte für die Opposition würden zu einer ungleichen Behandlung der Abgeordneten führen. Die Kontrolle der Regierung sei Aufgabe aller Abgeordneten, auch derjenigen, die die Regierungsmehrheit bilden. Selbst wenn diese in der Praxis selten von den Minderheitenrechten Gebrauch machten - eine Unterscheidung würde den Abgeordneten der Regierungsmehrheit signalisieren, dass ihre Kontrolle weniger wert sei. Die Opposition muss ihre Kontrolle also innerhalb der bestehenden Minderheitenrechte mit den festgelegten Quoren ausüben.
  • Ein wichtiges Argument der Richterinnen und Richter ist zudem der klare Wortlaut im Grundgesetz bezüglich des Quorums für Minderheitenrechte. "Ein Viertel ist ein Viertel", hatte Gerichtspräsident Voßkuhle schon in der mündlichen Verhandlung gesagt. Hier könne sich das Gericht nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen. 

Spielt irgendeine Rolle, dass sich die Parteienlandschaft ja im Laufe der Jahrzehnte geändert hat?

Das Gericht wirft durchaus einen Blick zurück in die Geschichte der Bundesrepublik. Denn neben dem reinen Wortlaut spielt auch immer der Wille des Gesetzgebers eine Rolle bei der Auslegung von Gesetzen bzw. der Verfassung. Von einem "Verfassungswandel" geht das Gericht aber nicht aus. Gerade in der Entstehungszeit des Grundgesetzes sei man - auch vor dem Hintergrund der Weimarer Zeit - von der Existenz zahlreicher Parteien im Parlament ausgegangen. Die Möglichkeit großer Koalitionen und einer kleinen Opposition habe schon damals bestanden. Das sei nicht erst eine Entwicklung der letzten Zeit.

Was heißt das für die zusätzlichen Rechte für die Opposition, die in der Geschäftsordnung geregelt sind?

Die zusätzlichen Rechte in der Geschäftsordnung wurden durch die Klage ja nicht angegriffen, also konnte sie das Gericht auch nicht direkt kippen. Es steht nun aber fest, dass es sich um freiwillige Zugeständnisse handelt, auf die die Opposition keinen rechtlichen Anspruch hat.

Wenn es keine speziellen Rechte für die Opposition geben darf - könnte man denn die Hürden für die Minderheitenrechte absenken?

Die Hürde von 25 Prozent für eine Klage gegen ein Gesetz könnte man per Verfassungsänderung senken. Dafür bräuchte man eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit. Allerdings wurde in der mündlichen Verhandlung von einigen Richtern darauf hingewiesen, dass die "Normenkontrolle" in Karlsruhe dann noch stärker zu einem politischen "Kampfinstrument" werden könnte.

Werden umstrittene Gesetze künftig nicht mehr vom Bundesverfassungsgericht kontrolliert?

Doch, natürlich. Denn es gibt ja weitere Klagearten, mit denen ein Gesetz nach Karlsruhe gebracht werden kann. Zum Beispiel über Normenkontrollen der Bundesländer (Beispiel Betreuungsgeld), über Vorlagen der Instanzgerichte (Beispiel Erbschaftssteuer), und vor allem durch Klagen betroffener Bürger (Beispiel Vorratsdatenspeicherung).

Warum konnte die Linksfraktion in diesem Fall überhaupt in Karlsruhe klagen, wenn doch angeblich ihre Klagerechte beschränkt sind?

Man darf verschiedene Klagearten nicht durcheinander bringen. Bei der "abstrakten Normenkontrolle" geht es darum, dass eine oder mehrere Oppositionsfraktionen in Karlsruhe gegen ein beschlossenes Gesetz klagen. Das ist wegen der aktuellen Mehrheitsverhältnisse derzeit nicht möglich. Die aktuelle Klage ist aber ein sogenanntes "Organstreitverfahren". Eine Bundestagsfraktion kann darin geltend machen, in ihren Rechten als Fraktion verletzt zu sein. Diese Klageart ist unabhängig von bestimmten Quoren möglich.