
Deutsch-türkische Beziehungen Auf Messers Schneide
Stand: 09.07.2017 14:19 Uhr
Der Abzug deutscher Soldaten vom türkischen Stützpunkt Incirlik markiert einen neuen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen Berlin und Ankara. Doch die Talsohle ist noch nicht erreicht. Experten warnen: Es könnte noch schlimmer werden.
Von Julian Heißler, tagesschau.de
Lange dürfte es nicht mehr dauern, bis auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik das große Packen losgeht. Die Vermittlungsversuche zwischen den Regierungen in Berlin und Ankara sind gescheitert, die Verlegung der Bundeswehr-Tornados auf den jordanischen Stützpunkt Al Asrak ist damit beschlossene Sache. Zwei bis drei Monate wird der Umzug dauern. Erst dann wird die deutsche Luftwaffe ihre Flüge im Zuge des Anti-IS-Einsatzes wieder aufnehmen können.
Die Verlegung markiert einen neuen Tiefpunkt im seit Monaten kriselnden deutsch-türkischen Verhältnis. Immer wieder waren die Regierungen aneinander geraten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sah sich etwa von der Armenier-Resolution des Deutschen Bundestags und von Auftrittsverboten für türkische Regierungsmitglieder vor dem jüngsten Verfassungsreferendum in der Türkei provoziert.
"In ganz schwerem Fahrwasser"
Er reagierte mit Beschimpfungen, einem Besuchsverbot für deutsche Abgeordnete bei in der Türkei stationierten Bundeswehrsoldaten und der Festnahme deutsch-türkischer Journalisten wie dem Korrespondenten der Zeitung "Die Welt", Deniz Yücel.
Damit stieg der Druck auf die Bundesregierung, gegenüber Erdogan klare Kante zu zeigen. Die Verlegung der Bundeswehr-Tornados vom Staatsgebiet des Verbündeten Türkei auf eine Basis des Nicht-NATO-Mitglieds Jordanien zeigt nun, wie sehr die Beziehungen mittlerweile gelitten haben. Sie befänden sich "in ganz schwerem Fahrwasser", urteilte etwa Außenminister Sigmar Gabriel.
Michael Stempfle, ARD Berlin, zu den Beziehungen nach Ankara
tagesschau 12:00 Uhr, 06.06.2017
"Der Abzug ist richtig"
Die Bundesregierung befindet sich damit in einer schwierigen Situation. Schließlich galt die Türkei lange als verlässlicher Partner der Bundesrepublik. Man sitzt zusammen in der NATO, verhandelt zumindest formal immer noch über einen EU-Beitritt - und ist nicht zuletzt über das Flüchtlingsabkommen miteinander verbunden.
Trotzdem ist man in der Großen Koalition davon überzeugt, dass der Bruch über Incirlik die korrekte Entscheidung ist. "Der Abzug ist richtig", sagt Cemile Giousouf, stellvertretende Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, im Gespräch mit tagesschau.de.
Der Türkei gehe es derzeit nicht um Sachpolitik, sondern um "Muskelspiele", so die CDU-Bundestagsabgeordnete. "Erdogan will zeigen, dass er am längeren Hebel sitzt", sagt sie. Dies sei jedoch mit Blick auf die eigene türkische Bevölkerung, die täglich vom IS-Terror bedroht ist, zynisch - "und gegen nichts anderes sind die deutschen Soldaten auf Incirlik stationiert". Zudem sei die Türkei wie kein anderes Land wirtschaftlich abhängig vom Ausland. "Sie ist das einzige Land der G20 mit einer deutlich negativen Leistungsbilanz", so Giousouf. "Die Türkei importiert mehr als sie exportiert - vor allem Rohstoffe werden teuer eingeführt. Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner."
"Ein Schlag für die Beziehungen"
"Auch der Streit zwischen der Türkei und Russland wurde schnell gelöst, nachdem Moskau den wirtschaftlichen Druck auf Ankara erhöht hatte", erklärt Giousouf. Sie hofft, dass auch das deutsch-türkische Verhältnis sich entspannt, sollte die Wirtschaft der Türkei zunehmend unter dem Streit zwischen den Ländern leiden.
Auch Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, begrüßt die Tornado-Verlegung. Klar sei jedoch, dass sie "ein Schlag für unsere Beziehungen" sei, so der SPD-Politiker im Gespräch mit tagesschau.de. Ein Ende der Querelen erwartet er in nächster Zeit nicht. "Auch bei der technischen Umsetzung des Abzugs werden wohl Bilder entstehen, die nicht ins gemeinsame Poesiealbum der Türkei und Deutschland gehören", sagt er.
Neuer Druck droht
Annen verbreitet nicht gerade Optimismus, wenn er über die Zukunft der deutsch-türkischen Beziehungen spricht. Zwar seien die Länder immer noch über gemeinsame Interessen verbunden - etwa in wirtschaftlichen Fragen, über die vielen familiären Beziehungen zwischen den Staaten und - zumindest theoretisch - bei der Bekämpfung der Terrormilz "Islamischer Staat", doch gebe es derzeit angesichts des großen innenpolitischen Drucks in der Türkei kaum Anknüpfungspunkte für ein gemeinsames Vorgehen.
"Die deutsche Seite wird den Türken wohl kaum in Fragen der Visa-Freiheit oder bei der Zollunion entgegen kommen, solange Deniz Yücel und andere noch im Gefängnis sitzen", so Annen. Sollte Erdogan zudem noch die Todesstrafe wieder einführen, so würde dies den Druck auf die Beziehungen erneut erhöhen.
Ein Diplomat unter Druck
tagesschau24 11:00 Uhr, 06.06.2017, Eva Lodde, ARD Berlin
Kein gemeinsames Projekt
"Die Situation kann durchaus noch weiter eskalieren", sagt auch Roy Karadağ im Gespräch mit tagesschau.de. Es gebe schlicht kein großes Projekt mehr, das Deutschland und die Türkei miteinander verbinde, erklärt der Geschäftsführer des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen. "Nur beim EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen sind beide Seiten noch voneinander abhängig - aber keine Seite ist stolz auf diesen Pakt", sagt er.
Überhaupt hätten Deutschland und die Türkei sich in den vergangenen Jahren zunehmend voneinander entfernt. Berlin erwarte von Ankara nur noch, dass die Türkei ein verlässlicher Partner im NATO-Rahmen bleibe und den Flüchtlingspakt einhalte. Die türkische Regierung wiederum habe sich mittlerweile faktisch vom Ziel eines EU-Beitritts verabschiedet und konzentriere sich seitdem vor allem auf ihre Stellung im Nahen Osten.
"Wenig Hoffnung auf etwas Neues"
Eigentlich wäre dies der Moment, in dem Bevölkerung und Zivilgesellschaft neue Brücken zwischen den Staaten aufbauen könnten, erklärt Karadağ weiter. "Doch angesichts der Entfremdung, die als Reaktion auf den Putsch-Versuch in der Türkei und im Vorfeld des Verfassungsreferendums stattgefunden hat, habe ich derzeit wenig Hoffnung, dass auf diesem Weg etwas Neues entsteht", erklärt er.
Angesichts dieser Gemengelage sei weiterer Streit zwischen den Staaten nicht ausgeschlossen. "Die Ultima Ratio wäre es, wenn die Türkei den Flüchtlingspakt kündigt oder die EU den Beitrittsprozess formell abbricht", so Karadağ. Dazu müsse es nicht kommen, doch die Gefahr steht zumindest im Raum.
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