Wahlplakate in Berlin
Interview

Infratest-Geschäftsführer im Gespräch "Die Wahl ist noch nicht gelaufen"

Stand: 15.09.2017 05:22 Uhr

Eine gute Woche vor der Bundestagswahl sind viele Bürger unentschlossen, erklärt Infratest dimap-Geschäftsführer Siegel. Im Interview mit tagesschau.de spricht er über die Stärke der Union, die Schwäche der SPD und den offenen Kampf um Platz drei.

tagesschau.de: Im letzten ARD-DeutschlandTrend vor der Bundestagswahl liegt die Union 17 Prozentpunkte vor der SPD. Ist die Wahl faktisch gelaufen?

Nico Siegel: Die Wahl ist noch lange nicht gelaufen, auch wenn wohl etwas ziemlich Dramatisches geschehen müsste, damit die Union am 24. September nicht stärkste Kraft wird. Es gibt aber noch viel mehr offene Fragen als die eine nach der stärksten Partei - angefangen von der Höhe der Wahlbeteiligung bis zum Rennen um Platz drei. Da ist noch nichts entschieden, denn es gibt noch viele unentschlossene Wähler.

Nico Siegel
Zur Person

Nico A. Siegel ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap. Das Institut mit Sitz in Berlin erstellt unter anderem für die ARD den DeutschlandTrend und die Prognosen und Hochrechnungen an Wahlabenden.

tagesschau.de: Ihren Zahlen zufolge haben sich derzeit 57 Prozent der Wahlberechtigten bereits festgelegt. Ist das viel oder wenig im Vergleich zu vorangegangenen Bundestagswahlen?

Siegel: Etwas weniger als vor vier Jahren. 2013 hatten sich zu einem vergleichbaren Zeitpunkt bereits 63 Prozent festgelegt. Das heißt: Der Trend zur späteren Wahlentscheidung hat sich etwas verstärkt, ein Unterschied von sechs Prozentpunkten markiert aber auch keine sehr große Verschiebung.

Kampf um die "Spätentscheider"

tagesschau.de: SPD-Chef Martin Schulz hat in den vergangenen Wochen immer wieder auf die hohe Zahl der Unentschlossenen verwiesen. Ist zu erwarten, dass die nicht festgelegten Wähler das Wahlergebnis noch spürbar verändern?

Siegel: Die sogenannten Spätentscheider laufen nicht alle in eine Richtung. Die Unentschlossenen sind vielmehr eine sehr heterogene Gruppe. Es ist faktisch ausgeschlossen, dass eine Partei alle für sich gewinnen kann. Für alle Parteien geht es jetzt darum, einen möglichst großen Anteil am Restkuchen zu gewinnen. Deshalb werden sie jetzt in dieser letzten, richtig heißen Phase alles dafür tun, ihre Stammwähler zu mobilisieren und möglichst viele Unentschlossene zu sich herüberzuziehen.

tagesschau.de: Die Sozialdemokraten liegen nur noch bei 20 Prozent und könnten ihr historisch schlechtestes Ergebnis der Nachkriegszeit einfahren. Warum ist es der Partei nicht gelungen, den Schwung vom Frühjahr mitzunehmen?

Siegel: Dafür sind sicherlich verschiedene Faktoren verantwortlich. Der SPD fehlt im Wahlkampf bis heute ein zündendes Thema, mit dem sie sich eindeutig von anderen Parteien differenzieren kann. Mit dem Schwerpunkt soziale Gerechtigkeit ist ihr das nicht so gelungen wie erhofft - wo sie konkreter wurde, wie beim Thema Zukunft der Rente, scheint sie etwas besser zu punkten. Kampagne und Kandidat hat die Mehrheit der Menschen bislang jedenfalls nicht überzeugt. Die verlorenen drei Landtagswahlen haben den Abwärtstrend ebenfalls verstärkt. Und eines darf man nicht vergessen: Eine Mehrheit der Deutschen ist mit der Arbeit der Bundeskanzlerin ganz zufrieden und bewertet die wirtschaftliche Situation als gut - keine guten Vorzeichen für echte Wechselstimmung.

tagesschau.de: Was entscheidet diese Wahl: Personen oder Programme?

Siegel: Inklusive CSU werden vermutlich sieben Parteien in den nächsten Bundestag einziehen. Warum die Wähler sich für die eine oder andere Partei entscheiden, ist unter den Wählern und zwischen den Parteien sehr unterschiedlich. Ganz grob gesprochen: Bei Unionswählern spielt die Spitzenkandidatin tendenziell eine größere Rolle. Bei SPD, Linkspartei und Grünen sind hingegen traditionell die Programme wichtiger - auch wenn die Wahlkämpfe immer stärker personalisiert werden. Genaueres werden wir am Wahlabend wissen, weil dann die Ergebnisse der so genannten "exit poll" vorliegen, an der sich voraussichtlich mehr als 100.000 Wählerinnen und Wähler direkt nach ihrer Stimmabgabe beteiligen werden.

Langweiliger Wahlkampf?

tagesschau.de: Zu Beginn des Jahres hatte Merkel vor dem härtesten Wahlkampf seit Jahren gewarnt. Eine Fehleinschätzung?

Siegel: Soweit würde ich nicht gehen. Inwieweit Angela Merkel diesen Wahlkampf rückblickend als härtesten empfinden wird, kann ich nicht beurteilen. Es hängt auch ganz stark ab, auf was man bei der Beurteilung des Wahlkampfes genau blickt: die Messlatte für die Union, wenn man das Ergebnis von 2013 als solches heranziehen möchte und nicht nur den Abstand in der derzeitigen Umfragen zur SPD, liegt ja sehr hoch und bei Themen wie der Flüchtlingspolitik hat die Kanzlerin scharfen Gegenwind in Teilen des Wahlvolks.

Ich als Demoskop tue mich aber natürlich schon von Beruf wegen schwer die Einschätzung zu teilen, der zufolge wir bislang  auf einen eher langweiligen Wahlkampf zurückblicken. Auch diese Wahl bietet viele spannende Aspekte. Nach dem TV-Duell hat sich aber wohl auch aufgrund der Themensetzung die Einschätzung breit gemacht, dass die Unterschiede zwischen Union und SPD nicht so groß seien. Das sind sie in der Außenpolitik und bei der Flüchtlingspolitik auch nicht wirklich. Aber auf anderen Politikfeldern gibt es sehr wohl große Unterschiede auch zwischen den beiden großen Parteien, zum Beispiel bei Themen wie Steuern und Soziales. Und erst recht, wenn man sich das Angebot auch der kleineren Parteien zu Gemüte führt. Immerhin sieben Parteien - wenn man die CSU gesondert betrachtet - dürfen sich ja Hoffnung machen, in den 19. Deutschen Bundestag einzuziehen. An vielfältigem Angebot mangelt es nicht, eher ein Problem ist, dass es in diesem fragmentieren Parteiensystem unübersichtlicher für Wählerinnen und Wähler und schwieriger für die Regierungsbildung wird.

Spannendes Rennen um Platz drei

tagesschau.de: Beim Rennen um Platz drei liegt die AfD mittlerweile deutlich vorn. Wie hat die Partei das geschafft?

Siegel: Langsam: Bei der aktuellen Sonntagsfrage des ARD-DeutschlandTrend ist die AfD drittstärkste Partei - ob dies am 24. September der Fall sein wird, ist noch nicht entschieden. Die AfD trifft jedenfalls in den neuen Bundesländern auf höhere Zustimmung als im Westen und findet mehr Anklang bei Männern als bei Frauen. Sie ist die Partei der Enttäuschten und vor allem der Verunsicherten, ein buntes Sammelbecken von Nationalkonservativen, Globalisierungsgegnern, Kritikern der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik bis hin zu Wählern mit rechtsextremen Einstellungen. Und die Partei profitiert mit Sicherheit davon, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung beim Thema Flüchtlinge und Zuwanderung bei den etablierten Parteien nicht so richtige Unterschiede sehen kann - ob dies nun zutrifft sei dahingestellt.

Thema Flüchtlingspolitik

tagesschau.de: Aber hat das Thema Flüchtlinge in der öffentlichen Wahrnehmung nicht an Brisanz verloren? Im Sommer nannten Ihre Befragten den Umgang mit Flüchtlingen noch als wichtigstes Politikfeld. In Ihrer aktuellen Umfrage ist das Thema hingegen ins Mittelfeld gerutscht.

Siegel: Man kann diese Zahlen nicht Eins-zu-eins vergleichen, da sich die Fragestellung im Sommer und in dieser Woche unterscheiden. Im Sommer sollten die Befragten das aus ihrer Sicht wichtigste Politikproblem benennen. Diesmal haben wir für verschiedene Themen abgefragt, ob diese für die Wahlentscheidung wichtig sind oder nicht. Daher rangieren nun Themen wie Bildung, Terrorbekämpfung oder Absicherung im Alter weiter vorne. Aber immerhin noch 27 Prozent der Befragten sagen, dass Thema Flüchtlinge sei sehr wichtig  Bei den AfD-Anhängern sind es deutlich mehr, nämlich 60 Prozent.

tagesschau.de: Nach der Großen Koalition von 2005 bis 2009 verloren die beiden Volksparteien bei der Bundestagswahl deutlich, die Opposition hingegen legte spürbar zu. Warum scheint es diesmal der parlamentarischen Opposition aus Linkspartei und Grünen nicht zu gelingen, ihre Ergebnisse von vor vier Jahren zu verbessern?

Siegel: Abwarten: Das Wahlergebnis steht ja noch gar nicht fest. Bei unseren Umfragen muss man auch den statistischen Schwankungsbereich beachten. Es ist nicht auszuschließen, dass Grüne und Linkspartei noch über ihrem Ergebnis von 2013 landen, auch wenn die Grünen im aktuellen ARD-DeutschlandTrend bei 7,5 Prozent liegen. Insgesamt ist es diesmal aber so, dass mit AfD und FDP zwei nicht im derzeitigen Bundestag vertretene Parteien bereitstehen, um die möglichen Verluste von Union und SPD aufzusaugen. 2009 gab es die AfD noch gar nicht und die FDP réussierte als die Partei mit den größten Zuwächsen.

Das Interview führte Julian Heißler

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 14. September 2017 um 22:15 Uhr.