Interview

Die USA nach dem Attentat in Boston Mehr Zusammenhalt oder mehr Spaltung?

Stand: 18.04.2013 18:06 Uhr

Solange der oder die Täter von Boston nicht feststehen, kann eine wirkliche Aufarbeitung nicht beginnen. Davon ist der Politologe Christian Hacke überzeugt. Im Interview mit tagesschau.de analysiert er die Folgen der unterschiedlichen Szenarien: einer islamistischen Bedrohung oder eines rechtsradikalen Hintergrunds.

tagesschau.de: Auch Tage danach ist noch nicht klar, wer das Attentat in Boston verübt hat. Wie wirkt sich diese Unsicherheit auf die Amerikaner und ihr Bemühen aus, die Ereignisse zu verarbeiten?

Christian Hacke: Eine wirkliche Aufarbeitung kann erst dann beginnen, wenn feststeht, wer die Anschläge verübt hat. Sollte sich herausstellen, dass eine Bedrohung von außen, dass Al Kaida hinter den Anschlägen steckt, würde sich die Gesellschaft wieder stärker um den Präsidenten scharen. Das Land würde sich einen und das traditionelle Anti-Terror-Management verstärken. Aber die Amerikaner könnten sich nicht länger der Illusion hingeben, der Terror käme nicht ins eigene Land zurück. Und ebenso trügerisch wäre die Illusion gewesen, dass der Tod von Osama Bin Laden auch das Ende von Al Kaida bedeutet hätte.

Sollte es sich in Boston um einen Anschlag mit rechtsradikalem Hintergrund handeln, und dafür spricht meines Erachtens vieles, wäre das Gegenteil der Fall. Seit dem Amtsantritt von Barack Obama als Präsident beobachten wir eine Spaltung der Nation. Die Konfrontation zwischen Republikanern und Demokraten würde eine neue Dimension erhalten, wenn sich herausstellt, dass hier Leute am Werk waren, die sich an die Positionen der republikanischen "Tea Party" anlehnen und diese mit terroristischen Mitteln versuchen durchzusetzen.

Zur Person

Christian Hacke studierte Politik, Soziologie und Jura. Während seiner Lehrtätigkeit in Hamburg, Potsdam und Bonn forschte er unter anderem zu amerikanischer Geschichte und Außenpolitik sowie den transatlantischen Beziehungen. Hackes Darstellung der deutschen Außenpolitik gilt als Standardwerk.

Lange Geschichte des Rechtsradikalismus

tagesschau.de: Warum halten Sie es für wahrscheinlicher, dass der Anschlag rechtsradikal motiviert war?

Hacke: Der Rechtsradikalismus hat eine lange und auch militante Geschichte in den USA. Das mussten wir zum Beispiel 1995 feststellen, als der Golfkriegsveteran Timothy McVeigh den Anschlag in Oklahoma verübte, bei dem mehr als 150 Menschen getötet wurden. Seit Obama und seinen Bemühungen um liberalere Reformen ist die Zahl der rechtsradikalen Gruppen um etwa 100 auf mehr als 1000 gestiegen. Auf der einen Seite will Obama das Land aus der Identitäts- und Wirtschaftskrise führen. Aber auf der anderen Seite leidet vor allem die weiße Mittelschicht in den Südstaaten unter dieser Krise, und sie macht den Schwarzen an der Spitze des Landes dafür verantwortlich. Diese Menschen fühlen sich in ihren Vorurteilen und in ihrer Frustration bestätigt. Dabei hängen sie einem "American Dream" nach, der längst ausgeträumt ist und der nur durch Modernisierung zu erneuern ist. Beispiele für diese Modernisierung aber finden Sie vor allem in Europa und Asien, und nicht in den USA.

tagesschau.de: Werden die Anschläge von Boston ähnlich weitrechende Konsequenzen wie die von "9/11"?

Hacke: Das glaube ich nicht. Ich wundere mich vielmehr, dass jetzt schon wieder zum Anti-Terror-Kampf aufgerufen wird, anstatt erst mal abzuwarten und auf die amerikanische Lage zu schauen, die manchmal auf dem rechten Auge blind zu sein scheint. Zudem wird außer Acht gelassen, welche negativen Folgen dieser Anti-Terror-Kampf hat und hatte. Die USA haben zum Beispiel im Namen der Terrorismusbekämpfung auch Diktaturen unterstützt. Russland, China und etliche mittelasiatische Staaten haben Schulter an Schulter mit den USA ihr eigenes radikales Süppchen gekocht. Und: Wir müssen eine völlige Überdehnung der Kräfte konstatieren. Der Krieg in Afghanistan zum Beispiel ist weder militärisch noch wirtschaftlich noch strategisch zu bewältigen.

"Obama ist und bleibt hoch gefährdet"

tagesschau.de: Möglicherweise haben die Ereignisse von Boston auch die Abstimmung im Senat über schärfere Waffengesetze beeinflusst. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass die Waffenlobby davon profitiert hat?

Hacke: Offensichtlich ja. Boston scheint diejenigen zu stärken, die für die eigene Waffe argumentieren, denn das Moment der Selbstverteidigung ist ein uramerikanisches. Die USA unterscheiden sich in diesem Punkt sehr von Europa. Viele Amerikaner glauben immer noch, ihr Land sei das einzig wahre auf der Welt. Sie bleiben den alten Werten verhaftet, so fragwürdig die auch inzwischen geworden sind: nationales Selbstbewusstsein, Patriotismus, die Rechte des Individuums und die Überzeugung, dass nur wenig Staat sinnvoll ist.

tagesschau.de: Was bedeutet es, dass Obama selbst Adressat eines versuchten Anschlags mit einem Giftbrief war?

Hacke: Dieser Präsident ist und bleibt ein hoch gefährdeter. Schon allein aus diesem Grund verbietet sich jede Spekulation darüber, ob ihn die Ereignisse womöglich schwächen könnten. Der Giftbrief ist nur ein Beweis mehr dafür, dass die Sicherheitsmaßnahmen gerade für Obama besonders hoch sein müssen.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über diese Thema berichteten die tagesthemen vom 18. April 2013 um 22:15 Uhr.