Jahresbilanz 2010 - Die Köpfe des Jahres (4): Christian Wulff - plötzlich Schlossherr

Stand: 24.12.2010 20:03 Uhr

Ein überraschender Rücktritt, ein überraschender Kandidat und ein überraschend spannender Wahlkampf - Christian Wulff hätte sich Anfang des Jahres nicht träumen lassen, dass er Bundespräsident wird. Frisch im Amt gelang es ihm aber schnell, politische Akzente zu setzten.

Von Jens Borchers, ARD Berlin

Von Jens Borchers, HR, ARD-Hauptstadtstudio

"Es war mir eine Ehre, Deutschland als Bundespräsident zu dienen", spricht's, nimmt die Hand seiner Gattin und geht. Beleidigt dankt Horst Köhler als Präsident ab. Und hinterlässt vollkommen überraschte Spitzenpolitiker. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble gesteht: "Ich war sprachlos. Und ich bin's bis jetzt!" Die Kanzlerin braucht ein paar Tage, dann präsentiert sie - Nein, nicht Ursula von der Leyen, wie viele erwartet hatten - Merkel macht Christian Wulff zum Mann fürs Schloss Bellevue.

Die Versammlung lacht, Wulff wird Präsident

Das sorgt für Hohn und Spott, für viele Betrachtungen zum Thema "Profillosigkeit" und für einen beispiellosen, sehr fairen Wahlkampf. Christian Wulff gegen den Kandidaten und Rot-Grün, gegen Joachim Gauck, parteilos. Dann kommt der Tag der Präsidentenwahl: "Auf Christian Wulff sind 625 Stimmen entfallen", verkündet Norbert Lammert. Im dritten Wahlgang, mit einfacher Mehrheit, mühsam nur findet Merkels Kandidat die notwendige Unterstützung. Direkt nach diesem Wahl-Marathon überrascht Wulff mit trockenem Witz: "Wenn ich Ihnen sage, dass mein Antritt als Ministerpräsident im dritten Anlauf neun Jahre gedauert hat - dann war die Bundesversammlung heute relativ kurz." Die Versammlung lacht, Wulff wird Präsident.

Bilanz 2010

Zum Jahresende 2010 zieht tagesschau.de Bilanz. Welche Politiker haben in den vergangenen zwölf Monaten für Schlagzeilen gesorgt, welche Themen haben die Agenda bestimmt und wie hat sich die Parteienlandschaft verändert? Reporter aus dem ARD-Hauptstadtstudio blicken zurück auf ein Jahr, das geprägt war von überraschenden Rücktritten, unerwarteten Popularitätszuwächsen und Reformen, die die politische Landschaft verändern.

Bekenntnis zur Religionsfreiheit

In Bremen hält er seine erste große Rede. Deutschland debattiert zu diesem Zeitpunkt heftig über Thilo Sarrazin, Integration und Zuwanderung. In diese teilweise erbitterten Diskussionen hinein fährt Wulff mit dem Satz: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber, meine Damen und Herren, der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." Darüber wird wiederum debattiert. Das Nachrichtenmagazin "Focus" bringt ein Titelbild, auf dem Wulff als muselmanischer Gevatter karikiert wird. Die Kritik verstummt erst, als der Bundespräsident wenig später in der Türkei für Religionsfreiheit der Christen, für Integration und Austausch eintritt. Christian Wulff, so stellt sich langsam heraus, ist kein farb- und konturloser Provinzpräsident. Er bezieht Position. Er beweist Überparteilichkeit, Instinkt.

Als Wulff in Warschau ankommt, 40 Jahre nach dem Kniefall des sozialdemokratischen Kanzlers Willy Brandt, legt er besonderen Wert auf zwei Aussagen. Eine über den manchmal schwierigen Nachbarn Polen: "Polen tut Europa gut." Die andere über Brandts Kniefall: "Komprimiert hat mich das damals beeindruckt, obwohl ich dann in der Ostpolitik anderer Meinung war als Willy Brandt." Er leistete sich in Polen keine nennenswerten Fehltritte, erntete stattdessen viel Sympathie.

Ein Bundespräsident im Kinderfernsehen

Und Wulffs Aufmerksamkeit reichte bis hinein ins Kinderfernsehen, weil er mit kleinen Kindern in ein Schloss einzog. Wulff antwortet auf alle Fragen. Auch auf die, wer denn seine Koffer packe: "Bisher habe ich das immer selber gemacht. Jetzt habe ich jemanden, der sich drum kümmert, dass ich immer den richtigen Frack, den richtigen Smoking zum richtigen Anlass habe." Plötzlich Bundespräsident. Ein halbes Jahr danach wirkt Christian Wulff im Schloss Bellevue so, als sei er schon länger dort.