Hintergrund

Zehn Jahre "Agenda 2010" Eine Reform mit Wirkungen und Nebenwirkungen

Stand: 07.04.2013 12:28 Uhr

Es ist eines der umstrittensten Reformprojekte der Nachkriegsgeschichte - die "Agenda 2010". Vor zehn Jahren stellte Kanzler Schröder seine Pläne im Bundestag vor: Mehr Eigenverantwortung, weniger Staat. Das hat die deutsche Arbeitswelt umgekrempelt und die Sozialdemokraten innerlich zerrissen. Doch was hat die Agenda gebracht?

Von Florian Pretz, tagesschau.de

Es ist Freitag, der 14. März 2003. Im Bundestag stellt Bundeskanzler Gerhard Schröder eines der umfassendsten Reformpakete der deutschen Nachkriegsgeschichte vor: die "Agenda 2010". Knapp 90 Minuten spricht er vor den Abgeordneten. Unterbrochen von Beifall der eigenen rot-grünen Koalition und von oft kritischen Zwischenrufen der Union. Die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel kommentiert danach süffisant: "Der große Wurf für die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit nicht."

Über die Bewertung der "Agenda 2010" streiten sich Experten bis heute, zehn Jahre danach. Im Ausland gilt das Reformpaket als Vorbild, in Deutschland schimpfen Kritiker besonders über die soziale Spaltung infolge der Agenda-Politik.

Die "Agenda 2010", deren Namen einst Doris Schröder-Köpf ersonnen haben soll, brachte umfangreiche Veränderungen mit sich - für den Arbeitsmarkt, die Rente und das Gesundheitssystem. Das Reformpaket umfasst weit mehr als das am häufigsten diskutierte Hartz IV.

Die wirtschaftliche Situation vor 2003

Nach der Wiederwahl von Rot-Grün bei der Bundestagswahl im September 2002 steht Schröder vor vielen Problemen. Die schlechte Wirtschaftslage nach dem Platzen der New-Economy-Blase zwingt die Bundesregierung 2003 zum Handeln. Die Arbeitslosenquote liegt zum Zeitpunkt von Schröders Agenda-Rede bei 11,3 Prozent, mehr als 4,7 Millionen Menschen sind offiziell ohne Job. Nach einer Stagnation im Jahr 2002 geht das Bruttoinlandsprodukt in den ersten Monaten des Jahres 2003 zurück. Der Rentenkasse droht im Zuge des demographischen Wandels der Kollaps, der private Konsum sinkt, die Lohnnebenkosten steigen.

Der haushaltspolitische Spielraum des Bundes ist in dieser Phase gering. Deutschland verletzt bereits die Kriterien des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes.

Um Deutschland "wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu führen", wie es Schröder in seiner Regierungserklärung damals formuliert, müssten "Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung" geschaffen werden.

Für die SPD sind diese umfangreichen Reformen auch eine Abkehr vom bisherigen sozialdemokratischen Selbstverständnis. Die "Agenda 2010" zerreißt die Sozialdemokraten innerlich und brüskiert die Gewerkschaften. Der Kurswechsel geht so weit, dass selbst ein FDP-Politiker Schröder applaudiert, als der die Leitlinie der "Agenda 2010" zusammenfasst: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern."

Lob von Merkel 2005

Gut zweieinhalb Jahre nach ihrem Kommentar im Bundestag sagte Merkel in ihrer Regierungserklärung nach der Wahl als Schröders Nachfolgerin: "Ich möchte Kanzler Schröder ganz persönlich danken, dass er mit der 'Agenda 2010' mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, unsere Sozialsysteme an die neue Zeit anzupassen."

Eine bemerkenswerte Kehrtwende von Merkel. Die für die Reform verantwortliche SPD hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich von der Agenda entfernt.

Hartz IV, Leiharbeit und Ein-Euro-Jobs

Kernpunkt der Agenda sind von Anfang an die Arbeitsmarktmaßnahmen. Aus den angestaubten Arbeitsämtern werden Agenturen für Arbeit. Zusammen mit den kommunalen Sozialämtern sollen sie in Arbeitsgemeinschaften (ARGE) die Erwerbslosen betreuen - von Anfang an ein Zankapfel zwischen den Institutionen. Viele Arbeitslose klagen zu Beginn über ein organisatorisches Chaos. 2010 werden nach einem Verfassungsgerichtsurteil aus den Arbeitsgemeinschaften die neu strukturierten Jobcenter. Für die Berater ändert sich dadurch nichts am Grundsatz ihrer Arbeit: Sie sollen nicht Arbeitslosigkeit verwalten, sondern Jobsuchende gezielt "fördern und fordern".

Ein wichtiger Schritt dabei: Die bisherige Arbeitslosenhilfe für Langzeitarbeitslose und die Sozialhilfe werden im Zuge der "Agenda 2010" zusammengelegt. Seither gibt es das steuerfinanzierte Arbeitslosengeld II (ALG II). In der öffentlichen Wahrnehmung setzt sich dafür der Begriff Hartz IV fest - ein Stigma. Die Leistungen werden faktisch auf das Niveau der Sozialhilfe begrenzt, in Einzelfällen liegen sie nach der Einführung auch darunter.

Gleichzeitig wird die Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Diese wurde bis dahin nach dem Arbeitslosengeld teilweise für einen längeren Zeitraum ausbezahlt. So sollte verhindert werden, dass Menschen, die lange ihre Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatten, nach kurzer Zeit auf das Niveau der Sozialhilfe absackten. Mit der "Agenda 2010" fällt dieses Polster weg.

Kürzere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes

Parallel wird die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt: Wer seinen Job verliert, bekommt im Regelfall nur noch zwölf Monate ALG I. Nur über 55-Jährige erhalten noch maximal 18 Monate staatliche Unterstützung, die an den vorherigen Lohn gekoppelt ist. Danach fallen sie auf Hartz IV zurück. Der monatliche Regelsatz liegt derzeit bei 382 Euro plus Zuschüssen.

Durch diese niedrige Grundsicherung soll ein Anreiz entstehen, einen neuen Job anzunehmen, auch wenn der schlechter bezahlt ist als der vorherige. Stichwort: "Fördern und Fordern". Für ALG II-Empfänger ist jede legale Arbeit zumutbar. Das bedeutet, dass einem Ingenieur auch eine Tätigkeit als Packer am Förderband zugemutet werden kann. Lehnt der Arbeitslose eine zumutbare Tätigkeit ab, wird das ALG II für drei Monate um 30 Prozent gekürzt.

Teil der "Agenda 2010" sind außerdem ein gelockerter Kündigungsschutz und eine Deregulierung der Zeitarbeit. So sollen Unternehmen Produktionsspitzen ausgleichen können, ohne feste Arbeitsverhältnisse eingehen zu müssen.

Arbeitsmarkt: Was die "Agenda 2010" gebracht hat

Zehn Jahre nach ihrer Vorstellung hat die Agenda besonders den Arbeitsmarkt dramatisch verändert. Nach einem kurzen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf mehr als fünf Millionen 2005 liegt heute die Arbeitslosigkeit offiziell bei 3,16 Millionen. Das entspricht einer Quote von 7,4 Prozent. Eine deutliche Verbesserung - allerdings wurde auch die Zählweise mehrmals angepasst.

Auch die absolute Zahl von Erwerbstätigen entwickelt sich nach der Umsetzung der "Agenda 2010" positiv: 2003 sind es 38,9 Millionen, heute 41,4 Millionen.

Die Streichung von Leistungen wie der Arbeitslosenhilfe hat auch Folgen für die Lohnnebenkosten - ein erklärtes Ziel der Agenda. Zwischen 2003 und 2013 sinkt der Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung sukzessive von 6,5 auf 3,0 Prozent.

Ein weiteres Ergebnis der Agenda-Reformen: Die Leih- und Zeitarbeit weitet sich massiv aus. 2003 sind lediglich 328.000 Menschen als Leiharbeiter beschäftigt. Bis heute steigt die Zahl auf 908.000.

Geringqualifizierte profitieren kaum

Der Arbeitsmarkt ist durch die "Agenda 2010" deutlich flexibler geworden. Gleichzeitig nimmt jedoch die Einkommensungleichheit zu. Das diagnostiziert auch die OECD in ihrem Beschäftigungsausblick 2012. Darin stellt sie fest, dass besonders gering Qualifizierte wenig von den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt profitieren. Inwieweit diese Entwicklung mit der Agenda-Politik zu tun hat, sagt die OECD-Studie aber nicht.

Kritiker werfen der "Agenda 2010" vor, für die Ausweitung des Niedriglohnsektors mitverantwortlich zu sein. Der vergrößert sich laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung in den vergangenen Jahren von 14 auf 21,5 Prozent. Ein deutlicher Anstieg und nicht das einzige Anzeichen für einen "prekären" Arbeitsmarkt. Auch die Tarifbindung nimmt nach 2003 in den vergangenen zehn Jahren deutlich ab. Heute arbeiten nur noch 62 Prozent der Beschäftigten mit Tariflohnanspruch - nach 72 Prozent im Jahr 2003.

Ein kausaler Zusammenhang mit der Agenda-Politik ist jedoch umstritten. Denn immer mehr Unternehmen verlassen die Arbeitgeberverbände um so in ihrer Lohngestaltung nicht an Flächentarifverträge gebunden zu sein.

Die Entwicklung der Aufstocker

Ein weiteres Phänomen: Vielen Menschen reicht die Bezahlung ihrer Arbeit nicht mehr zum Leben. "Aufstocker" sind eine ökonomische Erscheinung der vergangenen zehn Jahre. Laut dem Arbeitsmarktforscher Hilmar Schneider gibt es heute in Deutschland 1,4 Millionen Menschen, die neben ihrem Einkommen auch Hartz IV beziehen.

"Die Löhne, zu denen sich Vollzeitarbeit für diese Menschen lohnen würde, erreichen sie nicht. Und die Löhne, die sie erzielen könnten, empfinden sie unter den gegebenen Umständen zu Recht als Zumutung", erklärt Schneider. Eine Entwicklung, die dazu führt, dass der Staat immer mehr Menschen mit Transferleistungen unterstützen muss. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund schlägt Alarm. Hartz IV diene zunehmend zur Sicherstellung des Existenzminimums für Menschen, die trotz ihrer Erwerbstätigkeit kein ausreichendes Einkommen erzielten.

Eine weitere Entwicklung der vergangenen zehn Jahre: Immer mehr Menschen arbeiten als Selbstständige. Ihr Anteil erhöht sich laut der Bundesagentur für Arbeit zwischen 2003 und 2013 um rund zehn Prozent.

Der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel

Bereits vor 2003 beginnt die Bundesregierung, das Rentensystem zu reformieren. Mit der Einführung der Riester-Rente wird die private Altersvorsorge gefördert. Nach Ansicht des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln markiert die "Agenda 2010" daher keinen Wendepunkt in den Rentenpolitik.

Teil der SPD-Reformmaßnahmen unter Schröder ist jedoch die Einführung des sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor in die Rentenformel. Er besagt, dass die Rentenerhöhung niedriger ausfällt, wenn die Zahl der Rentner im Vergleich zu den Beitragszahlern überproportional steigt. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels mit der älter werden Bevölkerung bedeutet das faktisch geringere Renten. Der Nachhaltigkeitsfaktor ist aber nur einer von mehreren Einflussgrößen, der die Rentenhöhe beeinflusst.

Rente: Was die "Agenda 2010" gebracht hat

Die Agenda-Politik hat auf die Rente hauptsächlich indirekte Auswirkungen. Das Ziel der Schröder-Regierung, die Beitragssätze zur Rentenversicherung unterhalb von 20 Prozent zu halten, wird bis heute erreicht. Die Sätze steigen nach 2003 von ursprünglich 19,5 Prozent auf bis zu 19,9 Prozent im Jahr 2011. Seitdem fallen sie jedoch wieder. Aufgrund der guten konjunkturellen Entwicklung senkt die Bundesregierung den Beitragssatz für 2013 auf 18,9 Prozent. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen monatlich 9,45 Prozent des Bruttolohns in die Rentenkasse.

Die Herausforderungen heute sind angesichts der vergleichsweise guten Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr Löcher in der Rentenkasse, sondern die Sorge vor Altersarmut. Denn die Ausweitung des Niedriglohnsektors schneidet einen großen Teil der Bevölkerung von einer ausreichenden Rente ab.

Die direkten Folgen der "Agenda 2010" sind für die Rentner eher negativ. Auch durch die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors steigt die durchschnittliche Altersrente zwischen 2003 und 2011 nur leicht an. Von 733 Euro pro Monat auf 743 Euro. Die Renten sind heute auf einem ähnlichen Niveau wie vor zehn Jahren.

Renteneintrittsalter steigt

Ein direkter Einfluss der Agenda lässt sich auch beim Verrentungsalter feststellen. 2003 sind die Deutschen beim Eintritt in die Rente durchschnittlich 62,9 Jahre alt. Danach arbeiten die Menschen allmählich länger bis zum Ruhestand. Frauen sind 2011 beim Renteneintritt im Schnitt 63,2 Jahre alt, Männer sogar 63,8 Jahre. Die Deutsche Rentenversicherung rechnet damit, dass sich dieser Trend weiter fortsetzen wird. Das liege auch an den Beschlüssen der Agenda-Politik - die den Anreiz verstärkt habe, länger zu arbeiten.

An einen solchen Effekt glaubt auch der Arbeitsmarktforscher Hilmar Schneider. Er macht für die spätere Verrentung besonders die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe verantwortlich. Vor 2003 hätten die über einen längeren Zeitraum ausbezahlten Hilfen den Effekt des Jobverlusts länger abgefedert - ein faktischer Frühverrentungsanreiz, sagt Schneider.

Praxisgebühr, Zahnersatz und Sterbegeld

Das langfristige Ziel der "Agenda 2010" im Gesundheitssektor: Die Beiträge zur Krankenversicherung unter 13 Prozent zu drücken. Um dieses Vorhaben zu verwirklichen, wird mehr Eigenverantwortung - sprich mehr Eigenleistungen - von den Menschen auch im Gesundheitswesen verlangt.

Zahlreiche Leistungen wie Sterbegeld, Entbindungsgeld, Aufwendungen für künstliche Befruchtung werden mit der Agenda gestrichen. Außerdem wird in einigen kostenintensiven Bereichen das Prinzip der paritätischen Kostenteilung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeschafft. Versicherte müssen dadurch Zahnersatz und Krankengeld ab 2005 alleine finanzieren. Außerdem wird 2005 ein zusätzlicher Beitragssatz von 0,9 Prozent eingeführt, den alleine die Versicherten bezahlen mussten.

Die 10-Euro-Praxisgebühr pro Quartal wird eingeführt, um für ein größeres Kostenbewusstsein der Patienten sorgen. Sie fällt aber zum Jahresbeginn 2013 und damit kurz vor dem zehnten Jahrestag der Reform wieder weg.

Gesundheit: Was die "Agenda 2010" gebracht hat

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft glaubt nicht, dass die Kürzungen im Zuge der "Agenda 2010" das Gesundheitssystem auf den richtigen Weg gebracht haben.

Denn die verhältnismäßig geringen Einsparungen und Mehreinnahmen überleben entweder nur wenige Jahre (Praxisgebühr) oder sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein des defizitären Gesundheitssystems. Dessen Ausgaben steigen nach 2003 um etwa 50 Milliarden Euro auf 287 Milliarden Euro.

An sinkende Krankenversicherungsbeiträge ist daher nicht zu denken. 2003 liegt der durchschnittliche Satz in der gesetzlichen Krankenversicherung bei 14,3 Prozent, 2009 wird er als allgemeiner Beitragssatz per Gesetz auf 15,5 Prozent festgeschrieben - und liegt nach einer vorübergehenden Senkung derzeit wieder auf diesem Niveau. Davon zahlen Arbeitnehmer 8,2 Prozent, Arbeitgeber dagegen nur 7,3 Prozent. Der 2005 vollzogene Abschied von der hälftigen Teilung der Krankenversicherungsbeiträge, der seinen Ursprung in der "Agenda 2010" genommen hat.