Russlands Präsident Wladimir Putin
Hintergrund

Moskau und der Fall Nawalny Aus dem Lehrbuch der Desinformation

Stand: 03.09.2020 13:02 Uhr

Giftgas in Syrien, der Abschuss von MH17, die Anschläge auf Skripal, im Tiergarten und nun auf Nawalny: Russland weist stets jede Beteiligung zurück - und schlägt mit Desinformation zurück.

Attacken, Vorwürfe und eine angebliche Bereitschaft zur Kooperation - aber keine Angaben zum eigentlichen Thema und keine Kooperation: So reagierte Russland oft, wenn der Kreml in der Kritik stand. Dazu kommen zumeist noch Gerüchte und Ablenkungsmanöver. Die Muster wiederholen sich.

Der Fall Nawalny

Russland kritisierte das Vorgehen der Bundesregierung im Fall Nawalny. Die russische Botschaft in Berlin warnte die Bundesregierung vor einer "Politisierung" des Falls. Deutschlands gebe lieber öffentliche Erklärungen ab, ohne Beweise vorzulegen, als eine gründliche Untersuchung durchzuführen, sagte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. Sie warf der Bundesregierung eine "Informationskampagne gegen Russland" vor.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betonte einerseits, Russland sei bereit zur Zusammenarbeit, allerdings hätten die deutschen Behörden bisher auf Anfragen der Generalstaatsanwaltschaft und der russischen Ärzte Nawalnys nicht reagiert und keine Informationen weitergegeben. Peskow behauptete andererseits, bevor Nawalny nach Deutschland ausgeflogen worden sei, habe man kein Gift in seinem Körper gefunden.

Der Duma-Abgeordnete Andrej Lugowoi ging noch einen Schritt weiter: Er sei sich sicher, dass Nawalny erst in Deutschland vergiftet worden sei. Die Vergiftung mit einem Chemiekampfstoff, der nur in Russland hergestellt werde, sei eine Provokation Berlins.

Lugowoi wurde bekannt in Zusammenhang mit der Vergiftung des russischen Ex-Geheimdienstagenten Alexander Litwinenko 2006 in Moskau. Die britische Staatsanwaltschaft beschuldigt ihn seit 2007 des Mordes an Litwinenko. Russland liefert ihn aber nicht aus.

Anschlag auf Skripal

Der Fall des Ex-Geheimdienstagenten Sergej Skripal und seiner Tochter im Jahr 2018 rief Erinnerungen an den Giftmord an Litwinenko wach. Die Skripals wurden am 4. März 2018 in der englischen Stadt Salisbury bewusstlos aufgefunden und mit Anzeichen einer Vergiftung in eine Klinik eingeliefert. Der Fall löste erneut eine schwere diplomatische Krise zwischen Großbritannien und Russland aus.

Die damalige Premierministerin Theresa May erklärte bald nach dem Vorfall, dass es sich um einen von russischer Seite begangenen Anschlag handelte, ohne allerdings sogleich der Öffentlichkeit Beweise vorzulegen. Die Regierung in Moskau nutzte dies, um ein weiteres Mal mit einer Fülle von Behauptungen von einer russischen Täterschaft abzulenken. Als Recherchen aufdeckten, dass zwei russische Geheimdienstagenten zum Zeitpunkt des Attentats in Salisbury waren, erklärten diese in einem Interview mit dem russischen Staatssender RT, dort nur als Touristen gewesen zu sein.

Anschlag im Tiergarten

Im Fall des Mordes am georgischen Staatsbürger Zelimkhan Khangoshvili im Kleinen Tiergarten in Berlin im August 2019 lässt sich die Täterschaft nur schwer abstreiten. Denn der Mann, der Khangoshvili mutmaßlich erschoss, wurde bei seiner Flucht beobachtet und nach Hinweisen aus der Bevölkerung unweit des Tatorts festgenommen. Recherchen ergaben in diesem Fall, dass er einen Decknamen und gefälschte Dokumente benutzte, die offenbar von russischen Behörden ausgestellt worden waren.

Die russische Führung versuchte, den Blick der Öffentlichkeit und auch der deutschen Ermittlungsbehörden allein auf das Opfer zu lenken. Khangoshvili sei Islamist gewesen. Putin bezeichnete ihn als "Banditen". Auf zahlreiche Anfragen zum mutmaßlichen Täter erhielten die deutschen Behörden keine hilfreichen Antworten. Die Bundesanwaltschaft erhob dennoch nicht nur Mordanklage, sondern sieht auch einen Verdacht auf russischen Staatsterrorismus. Der Prozess beginnt Anfang Oktober in Berlin.

Motive für den Mord im Kleinen Tiergarten gibt es mehrere - es könnte sich um Rache und um eine Warnung an Gegner der Führung in Russland handeln. Dies liegt auch bei Nawalny nahe, der unter anderem Korruption bei prominenten Politikern und Unternehmern aus dem Umfeld Putins aufdeckte. Dabei wächst die Liste der vergifteten Regierungskritiker. Hinzu kommen die Vorwürfe offener und verdeckter Beteiligung an Kriegsverbrechen, je aktiver russischer Streitkräfte im Ausland wurden.

Präsenz in der Ukraine

Als im Jahr 2014 nach massiven Protesten der damalige Präsident Viktor Janukowitsch aus der Ukraine geflohen war, tauchten kurze Zeit später auf der Krim Männer in Militäruniformen ohne Hoheitszeichen auf. Nach einem umstrittenen Referendum verkündete Russland im März 2014 die Eingliederung der ukrainischen Halbinsel.

Auch in den Regionen Donezk und Luhansk in der Ostukraine tauchten Militärs ohne klare Zuordnung auf, ebenso schweres Militärgerät. Die russische Regierung bestritt lange, involviert zu sein, bis Präsident Wladimir Putin selbst von russischen Sicherheitskräften in der Ukraine sprach.

Außerdem belegen Aussagen beteiligter russischer Akteure, Investigativ-Recherchen russischer und internationaler Journalisten sowie Beobachtungen der OSZE-Mission vor Ort in der Ostukraine, dass russische Militärstrategen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklungen dort nahmen, dass russische Sicherheitskräfte in großer Zahl vor Ort waren und es wohl noch sind und dass russische Panzer und andere Militärtechnik zum Einsatz kamen.

Abschuss von MH17

Eine besonders tragische Folge der Kämpfe in der Ostukraine war der Abschuss des zivilen Flugzeugs MH17 der Malaysia Airlines am 17. Juli 2014, bei dem alle 298 Insassen getötet wurden. Während es früh nach dem Absturz Hinweise darauf gab, dass eine Rakete, abgeschossen von einem von Separatisten gehaltenen Gebiet, das Flugzeug getroffen haben könnte, verhinderte die russische Regierung eine Untersuchung durch ein UN-Tribunal.

Experten in Russland legten eine Fülle von Theorien und Belegen vor, die jedoch den Untersuchungen des Joint Investigation Team nicht standhielten. Es ist ein internationales Ermittlungsteam, geführt von der niederländischen Staatsanwaltschaft und Polizei. Der Ermittlungsleiter, der niederländische Staatsanwalt Fred Westerbeke, beklagte im Juni 2019, dass Russland viele Anfragen unbeantwortet lasse und so nicht zur Aufklärung beitrage. Die Schuldfrage wird in einem Prozess geklärt, der im März 2020 begann. Eine Anwältin der Opfer beklagte kürzlich, dass Fehlinformation und Behinderung der Aufklärung das Leid der Angehörigen noch verstärke.

Kriegsverbrechen in Syrien

Seit September 2015 ist Russland offiziell mit einem Militäreinsatz am Krieg in Syrien beteiligt, dies auf Seiten der Regierung in Damaskus. Bei zahlreichen Giftgas-Einsätzen und Bombardierung ziviler Ziele wie Schulen und Krankenhäusern stand die Frage nach Beteiligung und Unterstützung russischer Streitkräfte im Raum. Auch hier reagierte die Führung in Moskau mit dem gezielten Streuen von Gerüchten - Augenzeugen wurden unglaubwürdig gemacht und internationale Untersuchungen behindert. Berichte über Kriegsverbrechen bezeichnete die Regierung in Moskau als Märchen.

2018 sorgte ein Giftgaseinsatz im Ort Duma für internationale Verwerfungen. Russland präsentierte dazu in Den Haag mehrere Syrer, deren Aussagen belegen sollten, dass es gar keinen Angriff mit Giftgas gegeben habe. Die Botschafter von 17 Staaten bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) kritisierten die russische Pressekonferenz scharf. In einer gemeinsamen Erklärung schrieben sie, es handele sich um nichts weiter als plumpe Propaganda. Das Vorführen angeblicher Zeugen kollidiere mit den Untersuchungen der OPCW, deren Experten erst mit erheblicher Verzögerung ihre Arbeit in Duma beginnen konnten.

Um von den Vorwürfen abzulenken, hatte der Staatssender Russia 1 sogar behauptet, die Nichtregierungsorganisation Weißhelme habe in Syrien ein ganzes Filmset nachgebaut. Als vermeintlichen Beweis zeigte der Sender in seiner Hauptnachrichtensendung Ausschnitte aus einem syrischen Spielfilm - eine lupenreine Falschinformation.

So durchschaubar die einzelnen Ablenkungen auch sein mögen: Angesichts der Vielzahl von Behauptungen, Gerüchte und Lügen ist es kaum noch möglich, die substantiellen Berichte zu den Kriegsverbrechen in der Flut der Desinformation zu erkennen.

Einmischung in Wahlen

Bei der US-Wahl 2016 versuchten Akteure aus Russland, durch Anzeigen und Kampagnen in sozialen Netzwerken, bestehende Konflikte weiter anzuheizen und Donald Trumps Wahlkampf zu unterstützen. Analysen und Untersuchungen zeigten, wie koordiniert das Vorgehen dabei war. Die Spuren führten zur Internet Research Agency (IRA) in St. Petersburg, die als russische Trollfabrik berüchtigt ist.

Auch beim Brexit-Referendum in Großbritannien liegen zahlreiche Hinweise auf russische Einmischung vor, um die Leave-Kampagne zu unterstützen. Bei Referenden in den Niederlanden und Spanien sollen russische Akteure versucht haben, die öffentlichen Diskussionen zu manipulieren.

Auch bei der Bundestagswahl 2017 waren mutmaßliche russische Trolle aktiv, wie Recherchen des ARD-faktenfinder zeigen. In Frankreich unterstützte eine russische Bank im Jahr 2014 die rechtsnationale Partei Front National von Marine Le Pen mit einem Kredit. Die Veröffentlichung teils gefälschter Dokumente kurz vor der Präsidentschaftwahl sollte den Kandidaten Manuel Macron verunglimpfen.

Bis heute sind russische Netzwerke, die der Petersburger Agentur zugerechnet werden, in den sozialen Medien aktiv, um in die Innenpolitik anderer Staaten einzugreifen. Zudem sind russische Staatsmedien wie RT und Sputnik sowie weitere Ableger weltweit aktiv und senden im Sinne Moskaus.

Systematisches Doping

Auch beim Doping im Profi-Sport sieht sich Moskau als Opfer von Verleumdung und "russophober" Kampagnen. Journalistinnen und Journalisten, die über das systematische Doping in Russland berichten, werden diffamiert. Der ARD-Journalist Hajo Seppelt steht  bereits seit Jahren im Kreuzfeuer der russischen Propaganda: Staatsmedien griffen ihn immer wieder scharf an.

Seppelt sagt dazu im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder, er habe in Fernost, Afrika, Südamerika und anderswo umfangreich recherchiert. Es liege "in der Natur der Sache, dass Betroffene nicht amüsiert sind, wenn wir kritisch berichten. Aber so eine Reaktion wie in Russland habe ich noch nie erlebt."

Neue Möglichkeiten zur Recherche

Verschiedene Konflikte und Vorfälle, ähnliches Muster: Die Reaktion der russischen Führung ist immer die gleiche; Beweise und Indizien zurückweisen oder anzweifeln, Zeugen und Opfer diskreditieren, eigene Theorien und Behauptungen vorlegen und eine Mitarbeit oder Führung an Untersuchungen zu eigenen Bedingungen fordern. Die beteiligten Ministerien in Moskau schwanken dabei zwischen seriösem Auftreten einerseits und andererseits leicht durchschaubaren, hoch zweifelhaften und provokanten Aussagen.

Wenig professionelles Verhalten russischer Geheimdienstagenten wie im Fall Skripal und immer bessere Recherchemöglichkeiten auch im Cyberspace ermöglichen es aber häufiger, Spuren weit zurückzuverfolgen. Die russische Führung steht damit immer häufiger als unglaubwürdig da. Entsprechend harsch fallen inzwischen auch die Reaktionen der Bundesregierung aus, die in den vergangenen Jahren oft kritisiert wurde als zu nachgiebig gegenüber Putin und zu sehr an wirtschaftlichen Interessen orientiert.