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Hamburger Schulen Fast jede vierte Klassenfahrt per Flugzeug?

Stand: 27.11.2019 10:44 Uhr

"Fast jede vierte Klassenfahrt erfolgt per Flugzeug", kritisiert die AfD in Hamburg - und spricht von "Doppelmoral". Auch Zeitungen vermelden diese Zahl. Doch die Darstellung ist irreführend.

Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder

"Erst kommt das Fliegen, dann die Moral" - mit diesen Worten kritisiert die AfD-Fraktion in Hamburg Schülerinnen und Schülern in der Hansestadt. Der Abgeordnete Alexander Wolf vermutet eine "Doppelmoral" bei "großen Teilen der Schülerschaft": "Es ergibt wenig Sinn, für das Klima auf die Straßen zu gehen und Forderungen zur Rettung der Welt aufzustellen, aber sich selbst nicht zu mäßigen."

Hintergrund dieser Vorwürfe gegen viele der mehr als 180.000 Schülerinnen und Schüler in Hamburg ist eine Antwort des Senats auf eine AfD-Anfrage. Darin wollte die Partei wissen, wie viele Klassenfahrten es im Schuljahr gab und welche Verkehrsmittel dafür benutzt wurden.

Stichprobe von weiterführenden Schulen

Eine Antwort auf die Fragen konnte der Senat nicht liefern. Die Anzahl der Klassenreisen werde nicht zentral erfasst. Um einen Teil der abgefragten Daten zu ermitteln, müssten 6549 Reiseabrechnungen von Lehrern ausgewertet werden. Dies sei aus zeitlichen Gründen nicht möglich.

Allerdings lieferte der Senat das Ergebnis einer aktuellen Abfrage an 21 Schulen zu mehrtägigen Fahrten. Daran beteiligten sich neun Gymnasien und acht Stadtteilschulen.

Verkehrsmittel bei Schulfahrten an 17 weiterführenden Schulen
Verkehrsmittel Anzahl der Schulfahrten
Bus 141
Bahn 126
Flugzeug 84
HVV 4
Fähre 12
Wanderung 1
Segelschiff 1
Insgesamt 369

Bei dieser Stichprobe liegt das Flugzeug auf dem dritten Platz - mit gut 22 Prozent. Die AfD machte daraus die Schlagzeile: "AfD-Anfrage zeigt: Fast jede vierte Klassenfahrt erfolgt per Flugzeug" - und hob ferne Reiseziele hervor: "Klassenfahrten führten nach Brasilien, Sibirien, Shanghai oder in den Senegal." Mit einem ähnlichen Tenor berichteten mehrere Zeitungen und Blogs über Vielfliegerei und Doppelmoral bei jungen Menschen.

Screenshot der Meldung der "Bild"-Zeitung

"Bild"-Zeitung zu der Stichprobe der Schulfahrten: "Völlig abgehoben"

Von Klassenfahrten und Austauschprogrammen

Allerdings ist die Darstellung, ein Viertel aller Klassenfahrten finde per Flugzeug statt, irreführend, denn die Stichprobe bezieht sich lediglich auf weiterführende Schulen. Für Klassenfahrten gelten zudem Kostenhöchstsätze, sie reichen von 220 Euro in der Grundschule bis zu 400 Euro in der Sekundarstufe II. Damit müssen Reise, Unterkunft und Verpflegung bezahlt werden. Eine Fernreise ist damit nicht möglich.

Bei den erwähnten Auslandsreisen handelt es sich zumeist um Studienfahrten in der Sekundarstufe II oder Austauschprogramme. Die Teilnahme an internationalen Schülerbegegnungen und Schulpartnerschaften oder einem Austausch fallen nicht unter die Höchstkostenregelung. Hintergrund ist, dass es sich um Fahrten handelt, an denen nur einzelne Schüler oder Schülergruppen teilnehmen - aufgrund eines besonderen Engagements, besonderer Fähigkeiten oder besonderer Leistungen.

So handelt es sich beispielsweise bei der angeführten "Klassenreise" in den Senegal tatsächlich um ein langjähriges Schulprojekt. Teil davon sind eine Schul-AG, Veranstaltungen sowie Spendensammlungen. Alle zwei Jahre reisen zehn bis 15 Schülerinnen und Schüler in den Senegal, um Spenden zu übergeben. So würden Bücher und Inventar gestiftet, teilt die Schule mit.

"Nicht repräsentativ"

Die Schulbehörde erklärte auf Anfrage, es sei in der Antwort auf die AfD-Anfrage deutlich gemacht worden, dass es keine Gesamtzahlen gebe. Die Stichprobe sei "absolut nicht repräsentativ", daraus könnten "keine substanziellen Schlüsse auf die Gesamtheit der Hamburger Schulen gezogen werden".

In Berlin stellte die AfD eine ähnliche Anfrage, hier ergab sich ebenfalls ein Anteil von rund 22 Prozent von Flugreisen - aber auch hier unterschieden Medien nicht zwischen Austauschprogrammen und Klassenreisen. In Bremen berichteten Medien, rund neun Prozent der Klassenfahrten würden per Flugzeug angetreten, Basis sei eine "Statistik" der Schulbehörde. Eine Sprecherin der Behörde erklärte auf Anfrage, sie habe lediglich einige Zahlen für die Stadt Bremen vorliegen, nicht für das Bundesland. Eine echte Statistik sei das nicht. Zudem umfassten die Zahlen ebenfalls auch Austauschprogramme.

In der Mittelstufe ohnehin "kein Thema"

Hamburger Schulleiter verteidigen die Schülerschaft gegen den Vorwurf der Doppelmoral. Der Leiter einer Stadtteilschule erklärte, dass Austauschprogramme nur für kleine Gruppen angeboten würden. Klassenreisen dürften an der Schule gar nicht per Flugzeug angetreten werden; das gelte ab dem kommenden Jahr auch für die Abiturienten, für die es noch eine Ausnahme gibt. In der Mittelstufe sei das Flugzeug ohnehin "kein Thema". Hier würden "Bus, Bahn und Fahrräder genutzt". Gleiches gilt für alle Grundschulen.

Der Leiter eines Gymnasiums sagte dem ARD-faktenfinder, die Flugreisen nach St. Petersburg und Shanghai seien Austauschprogramme als Teil der Städtepartnerschaften mit Hamburg. Schülerinnen und Schüler würden sich bewusst gegen Flugreisen entscheiden. So seien Oberstufenschüler 24 Stunden mit dem Zug nach Nordschweden gefahren, um nicht zu fliegen. Zudem fordere der Schülerrat, dass in der Oberstufe künftig generell auf Flugreisen verzichtet werde. Ausnahme sollen die Städtepartnerschaften bleiben.

"Die Schüler nehmen das Thema sehr ernst, suchen nach pragmatischen und weitreichenden Lösungsansätzen und ziehen selbstbewusst an einem Strang mit einer zunehmend sensibilisierten Lehrerschaft." Dabei werde das Thema Verzicht - auch auf weit entfernte, sehr lukrative Reiseziele - nicht ausgespart. Der Schulleiter sieht Jugendliche weiter als einige Erwachsene: "Teilweise frage ich mich, wer hier wem etwas beibringt."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete rbb24 am 17. Oktober 2019 um 19:30 Uhr.