Interview

Interview zu Afghanistan-Geheimakten "Das wissen wir schon seit Jahren"

Stand: 26.07.2010 18:40 Uhr

Wie viel Neues bringen die US-Militärakten über den Afghanistankrieg tatsächlich ans Licht? Der Politikwissenschaftler Markus Kaim versteht die Aufregung um die Veröffentlichung bei WikiLeaks nicht. Die Fakten seien Experten schon lange bekannt, so Kaim im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Zehntausende geheime Militärakten über den Afghanistan-Einsatz sind von der Internetplattform WikiLeaks veröffentlicht worden. Herr Kaim, welche neuen Erkenntnisse bringen diese Dokumente über die Situation in Afghanistan?

Markus Kaim: In der Sache ergeben sich so gut wie keine neuen Erkenntnisse. Die Probleme und Missstände, über die in diesen Dokumenten berichtet wird, sind Beobachtern der ISAF-Mission seit langem bekannt.

"Das wissen wir alles"

tagesschau.de: Wie erklären Sie sich dann, dass der "Spiegel" - dem WikiLeaks neben der "New York Times" und dem "Guardian" diese Dokumente zur Verfügung gestellt hat - schreibt, sie würden die "wahre Dimension des Krieges" beschreiben?

Kaim: Das halte ich für eine Übertreibung. Nehmen wir uns die fünf Schwerpunkte, des "Spiegel"-Artikels doch einmal der Reihe nach vor. Erstens: Die amerikanische Spezialeinheit 373, deren Ziel es ist, Taliban und Terroristen zu fangen - gegebenenfalls auch zu töten. Dass solche Einheiten in Afghanistan operieren, ist altbekannt.

Zur Person

Markus Kaim leitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Der Konfliktforscher lehrt unter anderem an der Universität Zürich und der Hertie School of Governance in Berlin.

Zweitens: Die schlechte Sicherheitslage im Norden Afghanistans sowie die Behauptung, die Deutschen seien naiv in den Konflikt dort gezogen. Dass die Zahl der Anschläge in diesem Gebiet seit dem vergangenen Jahr steigt und die Lage der deutschen Soldaten besonders in Kundus gefährlicher geworden ist ließ sich bereits in den Quartalsberichten der UNAMA (Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) nachlesen - für jeden auch im Internet zugänglich. Inhaltlich bringen die jetzt veröffentlichten Dokumente also auch in diesem Punkt nichts Neues.

Drittens: Die Pannen und das Versagen der unbemannten Drohnen. Auch hier nichts wirklich Neues! Details über die technischen Defekte der Drohnen, die schlechte Wartung und die unzureichende Bedienung konnte man vor wenigen Wochen ausführlich in Artikeln amerikanischer Zeitungen lesen. Vierter Punkt: Der pakistanische Geheimdienst ISI unterstützt die Taliban. Das ahnen bzw. wissen wir auch schon seit Jahren.

tagesschau.de: Also ergibt sich durch die Veröffentlichung der Geheimakten tatsächlich kein neuer Blick auf den Einsatz in Afghanistan?

Kaim: Es gibt da ja noch einen fünften Punkt, der ist neu, aber der geht auch über Afghanistan hinaus. Demnach ertrinken die Geheimdienste in der Datenflut, die ihnen übermittelt wird. Das ist natürlich ein Problem, aber auch keine wirkliche Überraschung.

"Peinlich und ärgerlich für die US-Regierung"

tagesschau.de: Wie erklären Sie sich dann die große Aufregung über die Veröffentlichung der Geheimdokumente in Washington?

Kaim: Das Unangenehme für die US-Regierung ist, dass es im militärischen Apparat undichte Stellen gibt und dass jemand - vermutlich aus dem Pentagon - diese geheimen Dokumente an WikiLeaks weitergegeben hat. Das ist peinlich und ärgerlich für jede Regierung. Und natürlich ist es für die Verantwortlichen unangenehm, dass eine interne Einschätzung der kritischen Lage an die Öffentlichkeit kommt - selbst wenn sie mit den Ergebnissen von Wissenschaftlern und der Recherche von Journalisten übereinstimmt. Die Details in den Dokumenten sind wohl weniger das Problem.  

tagesschau.de: Auch in Deutschland wird ja heftig über den Einsatz in Afghanistan gestritten. Der "Spiegel" behauptet mit Verweis auf die neuen Dokumente, dass die Bundesregierung in ihren Informationen an das Parlament zwar Vorfälle, die Soldaten betreffend kommuniziert - Details über Vorfälle in den Gebieten, in denen sich die Deutschen aufhalten, aber zurückhält. Was bedeuten die neuen Dokumente also für den Einsatz der deutschen Soldaten?

Kaim: Die neue Afghanistan-Strategie, also außerhalb der Lager stärkere Präsenz zu zeigen, wird ja von den Deutschen unterstützt. Klar ist aber auch, dass die NATO dafür einen höheren Preis zahlt. Dadurch steigt die Zahl der Soldaten, die in diesem Einsatz ihr Leben verlieren. Das hat Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg aber auch schon mehrfach öffentlich gesagt. Und auch der Bundesaußenminister hat in der vergangenen Woche gesagt, nicht alles sei gut in Afghanistan. Natürlich gibt es da auch Stimmen, die den Einsatz in Afghanistan positiver bewerten, aber insgesamt vertritt die Bundesregierung doch eine nüchterne Einschätzung.

"Keine erhöhte Gefährdung durch die Veröffentlichung"

tagesschau.de: Der Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, James Jones, hat die Veröffentlichung scharf kritisiert. Er fürchtet, dadurch würden auch Menschenleben gefährdet!

Kaim: Das ist die Standardantwort in solchen Fällen. Eine erhöhte Gefährdung durch die Veröffentlichung sehe ich nicht. Die Veröffentlichung  eines Hubschraubervideos  der  US-Armee vor einiger Zeit bei WikiLeaks fand ich dagegen viel interessanten. Es zeigt, wie zwei Kampfhubschrauber 2007 im Irak eine Gruppe von Zivilisten angreifen und töten und dabei zynische Kommentare abgeben. Durch diese Bilder ergab sich für die Öffentlichkeit eine neue Sicht auf das US-Militär. Außerdem wurde eine Debatte darüber angestoßen,  wie das Militär operiert und wie leichtfertig auf Leute geschossen wird. Diese Diskussion fand ich gut und wichtig. Bei den Veröffentlichungen vom Wochenende sehe ich dagegen nichts Neues.

Das Interview führte Rike Woelk, tagesschau.de