EU weitet Beitrittsverhandlungen aus Brüsseler Belohnung für die Türkei

Stand: 14.12.2015 02:53 Uhr

Die Türkei hat ihre Schlüsselrolle in der Flüchtlingspolitik genutzt, um in den EU-Beitrittsverhandlungen aufs Tempo zu drücken. Heute eröffnet die EU ein neues Verhandlungskapitel. Dieser Schritt löst heftige Kritik aus.

Im dicken Beitrittsbuch wird ein neues Kapitel aufgeschlagen: Es ist das 15. von insgesamt 35 Kapiteln. Es geht um Wirtschaft und Finanzen.

Unverfängliche, aber bedeutende Themen, die bewusst gewählt worden seien, um einen sanften Wiedereinstieg in die Beitrittsverhandlungen zu schaffen, meint die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer. Doch was wird im neuen  Kapitel "Wirtschafts- und Währungspolitik" eigentlich genau verhandelt? "Es geht ganz wesentlich um die Unabhängigkeit der Zentralbank. Und um realistische Wirtschaftsprognosen", sagt Sommer. "Die Prognosen, die die Türkei im Verlauf des vergangenen Jahres herausgegeben hat, sind zum Beispiel wenig glaubwürdig. Und von Wirtschaftsprognosen hängen natürlich auch immer ausländische Investitionen in einem Land ab."

Das Wirtschaftswachstum in der Türkei ist sehr dynamisch. In den vergangenen zehn Jahren lag es im Durchschnitt bei 4,7 Prozent. Mittlerweile liegt es unter drei Prozent. Europäische Unternehmen seien an Reformen in der türkischen Wirtschaftsgesetzgebung interessiert, weil sie Rechtssicherheit bei Investitionen brauchten, sagen EU-Diplomaten. Je schneller sich die türkische Wirtschaft modernisiere, desto besser für die EU.

"Öffnung eines neuen Kapitels ist verlogen"

"Ich halte die Öffnung eines neuen Kapitels für verlogen", kritisiert allerdings die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel. "Der Türkei geht es darum, außenpolitisch und nach innen zu demonstrieren: 'Wir sind ja die Guten.' Trotz aller Kritik, die man derzeit an der Politik in der Türkei haben kann."

Die türkische Regierung unter Präsidenten Recep Tayyip Erdogan schränkt die Presse- und Meinungsfreiheit ein. Sie greift immer wieder in die Unabhängigkeit von Polizei und Justiz ein. Und: Seit langem wird dort die kurdische Minderheit unterdrückt. Dennoch sagte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Brüssel selbstbewusst, die Türkei sei eine europäische Nation: "Wir möchten Mitglied der europäischen Familie sein."

Widerstand gegen EU-Beitritt der Türkei

Doch einige Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Zypern möchten die Türkei nicht in der EU-Familie haben, sagen EU-Diplomaten. Auch in Deutschland gibt es Vorbehalte. Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sich zurückhält und die Bezeichnung "privilegierte Partnerschaft" schon lange nicht mehr in den Mund genommen hat.

Die Türkei hat einen Trumpf in der Hand: Sie ist das Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Denn über die Türkei strömen Menschen aus Syrien und dem Irak weiter über die Balkanroute nach Westeuropa. Kapiteleröffnung gegen Kooperation in Flüchtlingskrise? "Es liegt nur an der Flüchtlingssituation. Die Türkei hat uns damit unter Druck gesetzt", meint die CDU-Europaabgeordnete Sommer.

Zuletzt wenig Bewegung in den Verhandlungen

Zehn Jahre lang dauern nun schon die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei. In den vergangenen Jahren kamen sie kaum voran, weil die Türkei viele europäische Vorgaben nicht in ihrem Land umsetzen wollte. Die SPD-Europaabgeordnete Sippel kritisiert, dass nun auf einmal über zu viele Dinge verhandelt werde. "Die Türkei soll Geld bekommen. Es ist die Rede von Visa-Erleichterungen. Und ein neues Kapitel wird eröffnet. Und leider nicht das Justizkapitel, sondern ein wirtschaftliches", sagt sie.

Die EU-Kommission treibt die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei voran. Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat der türkischen Regierung zugesichert, dass Anfang des nächsten Jahres fünf weitere Kapitel eröffnet werden. Dabei soll es um Energie, Bildung und Kultur gehen, aber auch um Außen- und Verteidigungspolitik, Justiz und grundlegende Rechte. Schwierige Kapitel, an denen sich zeigen wird, ob die Türkei tatsächlich bereit ist für die europäische Familie oder nicht.

Karin Bensch, K. Bensch, WDR Brüssel, 14.12.2015 08:37 Uhr

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 14. Dezember 2015 um 05:24 Uhr im Deutschlandfunk.