Hintergrund

Die Türkei im Ausnahmezustand Probelauf fürs Präsidialsystem

Stand: 21.07.2016 13:55 Uhr

Für den türkischen Präsidenten Erdogan ist der Ausnahmezustand eine Art Probelauf für sein Präsidialsystem. Jetzt herrscht er per Dekret. Dabei ist er jedoch darauf bedacht, seine demokratische Legitimation zu behalten. Denn damit punktet er.

Präsident Recep Tayyip Erdogan bekommt, was er braucht. Drei Monate lang darf er per Dekret die Geschicke des Landes bestimmen. Das tut er schon länger, aber jetzt hat er dafür die nötige verfassungsrechtliche Grundlage. Das ist ihm wichtig. Deswegen will er auch unbedingt eine Verfassungsänderung. Darin soll das Prinzip eines Präsidialsystems festgeschrieben werden.

Er könnte darauf pfeifen, er übt die Macht ja ohnehin de facto bereits aus. Aber eine "demokratische Legitimierung" seiner Allmacht ist ihm enorm wichtig. Damit punktet er bei seinen Anhängern. Darauf weist er bei jeder Gelegenheit hin: Er sei der erste vom Volk direkt gewählte Präsident der Republik Türkei. Der Putsch ist ein "Geschenk Gottes". Das hat er bereits in der Putsch-Nacht gesagt. Erdogan nutzt die Gelegenheit, um mit echten und vermeintlichen Gegnern abzurechnen.

Militärjunta hätte das Land zurückgeworfen

Vermutlich wird er den Ausnahmezustand als Probelauf nutzen. Er wird teilen und herrschen. Er wird die Bevölkerung durch seine Art zu herrschen noch stärker spalten: in jene, die für ihn sind und jene, die zu seinen Gegnern wurden Das ist die Erfahrung der vergangenen Tage und Nächte. Die Polarisierung der Gesellschaft wird weiter zunehmen.

Bei aller Skepsis gegenüber Präsident Erdogan darf indessen nicht übersehen werden, in welch gefährlicher Lage sich die Türkei in der Putsch-Nacht befand. Durch viele die Demokratie aushöhlende Maßnahmen wird ihm gerade in Deutschland per se inzwischen ein gewisses Ur-Misstrauen entgegen gebracht. Doch je mehr Einzelheiten über Planungen und Ziele der Putschisten bekannt werden, umso mehr muss es einen gruseln: Eine Militärjunta hätte enorm viel Leid über das Land gebracht. Sie hätte das Land um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückwerfen können.

Kommt jetzt der Weiße Putsch?

Die Türkei ist an einer möglichen Katastrophe vorbei geschrammt. Nun muss andererseits wirklich sichergestellt werden, dass nach dem Putsch nicht vor dem Putsch ist. Erdogan darf den Ausnahmezustand nicht für einen sogenannten Weißen Putsch nutzen, um seine machtpolitischen Ziele zu verwirklichen. Angesichts der politischen Realitäten in der Türkei klingt das wie ein frommer Wunsch.

Die Putschisten haben sich lange auf ihren Umsturzversuch vorbereitet. Noch länger aber hat sich Erdogan auf die - wie er es nennt - "Säuberung" vorbereitet, die er noch in der Putsch-Nacht auf den Weg gebracht hat. Die Tatsache, wie stark sein engstes Umfeld durchsetzt war mit tatsächlichen und vermeintlichen Gülen-Anhängern, wird seine Absicht zu "säubern" zusätzlich anstacheln und schlimmstenfalls die politische Paranoia der türkischen Führung, von Feinden und Verschwörern umgeben zu sein, noch weiter befeuern.

Reinhard Baumgarten, R. Baumgarten, ARD Istanbul, 21.07.2016 13:45 Uhr