Staatliche Diskriminierung in Russland Grünes Licht für Jagd auf Schwule

Stand: 06.08.2013 05:17 Uhr

In Russland gilt seit Juni ein Gesetz, das angeblich Kinder schützen soll, tatsächlich aber Schwule diskriminiert. Neonazis schieben nun den Kinderschutz vor, um Homosexuelle zu jagen. Videos von Demütigungen stellen sie offen ins Netz.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Die Videos sind schlicht niederschmetternd: Russische Neonazis überfallen angebliche "Pädophile", zwingen sie dazu, Urin zu trinken oder Fäkalien zu essen. Sie schlagen auf ihre Opfer ein und demütigen sie - alles vor laufender Kamera. Die Angreifer wollen, so erklären sie es in Videos im Netz, die "Kinderschänder" von ihrer "Krankheit" Homosexualität heilen - und Russland von Schwulen "befreien".

Auf Dating-Plattformen geben sie sich selbst als Schwule aus, um ihre Opfer in die Falle zu locken; mal quälen sie ihre Opfer in Wohnungen, manchmal schlagen sie auf offener Straße zu. Angst vor Konsequenzen müssen sie offenbar keine haben: Die Angreifer treten bei den Attacken offen auf. Auch ihre Opfer, die sie bis zu einer halben Stunde lang demütigen, sind offen zu sehen.

Massenhafte Verbreitung auf russischem Netzwerk

Ihre menschenverachtenden Videos verbreiten die Täter im Internet, vor allem über das Netzwerk VK.com, das nach Facebook zweitgröße soziale Netzwerk in Europa. Nach Angaben des Unternehmens sind hier fast 220 Millionen Nutzer registriert. VK.com ist insbesondere unter russischsprachigen Menschen beliebt. Der oft als "russischer Mark Zuckerberg" bezeichnete Pavel Durov gründete VK.com im Jahr 2006, das Netzwerk ist unter anderem auch auf Deutsch zu erreichen.

Auf zahlreichen Seiten bei VK.com werden die Filme verbreitet. Bis zu 75.000 Mitglieder haben Gruppen, die unter dem Slogan "Occupy Pädophilie" auftreten. Anführer dieser Bewegung ist nach Angaben des Russian LGBT Network der militante Neonazi Maxim Marzinkewitsch. Dem Fachmagazin "blick nach rechts" zufolge wird Marzinkewitsch "das Beil" genannt und war Anführer der Neonazi-Truppe "Format 18" (18 ist eine Chiffre für Adolf Hitler). Im Internet posiert Marzinkewitsch in SS-Uniform, er veröffentlicht auf VK.com zahlreiche Gewaltvideos, auf seinem Profilbild würgt der Neonazi eine andere Person.

Toleranz gegenüber Intoleranz

All diese gewalttätigen Filme sowie massenhaft Neonazi-Propaganda scheinen bei VK.com kein großes Problem darzustellen. Der deutsch-russische Publizist und Autor Sergey Lagodinsky sagte im Gespräch mit tagesschau.de, es gebe in der macho-haften russischen Gesellschaft ohnehin eine "gewisse Toleranz" gegenüber Ressentiments und Gewalt gegen Homosexuelle. VK.com sei zudem bekannt dafür, dass dort des Öfteren illegale Inhalte verbreitet würden. Eine schriftliche Anfrage von tagesschau.de an VK.com zu den gewalttätigen Videos blieb bislang unbeantwortet.

Eine Mitarbeiterin des Russian LGBT Network sagte im Gespräch mit tagesschau.de, eine Vertreterin von VK.com habe ihr gegenüber mitgeteilt, die jeweiligen Opfer müssten beantragen, dass die Videos gelöscht werden. Doch die haben nach den öffentlichen Demütigungen wohl kaum die Kraft, sich noch zu wehren. Ein Opfer in St. Petersburg beging nach Angaben des Russian LGBT Network Selbstmord, ein anderer junger Mann wurde demnach noch von der Polizei misshandelt und flüchtete nach Großbritannien, um dort Asyl zu beantragen.

"Grünes Licht für Gewalttäter"

Gewalt gegen Schwule und Lesben sei in Russland nicht neu, doch durch die schwulenfeindliche Politik der Regierung werde sie noch gefördert, berichtet Polina Andrianova von der St. Petersburger Organisation Coming Out. "Die Ampel für Übergriffe wurde nun auf Grün gestellt", sagt sie im Gespräch mit tagesschau.de.

In St. Petersburg gilt bereits seit Februar 2012 ein schwulenfeindliches Gesetz, das nun landesweit umgesetzt wurde. Seitdem gebe es in der Stadt deutlich mehr gewalttätige Proteste gegen Aktionen von Schwulen und Lesben, berichtet Andrianova. Die Polizei sei nicht in der Lage oder nicht Willens, die Angreifer zu stoppen. Neonazis und radikale religiöse Gruppen fühlten sich durch das Gesetz in ihrem Treiben legitimiert, betont Andrianova, denn wenn eine Regenbogenfahne auf der Straße gezeigt werde, könnte dies als "Propaganda" für Homosexualität ausgelegt werden. Daher hätten die Angreifer das Recht, gegen die Schwulen und Lesben vorzugehen.

"Das schwulenfeindliche Gesetz hängt wie ein Damoklesschwert über der Arbeit unserer und anderer Nichtregierungsorganisationen", sagt Andrianova, denn es verbiete positive Äußerungen über Homosexualität - insbesondere gegenüber Jugendlichen. Damit werde jede Aufklärung und Beratung praktisch kriminalisiert.

Auch gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern seien extrem verunsichert, da sie fürchten, das Jugendamt könnte ihnen auf Basis des Gesetzes die Kinder wegnehmen. "Viele denken darüber nach, auszuwandern", berichtet Andrianova. Durch das Gesetz sei das Gefühl einer ständigen Unsicherheit und Bedrohung allgegenwärtig. Auch der Publizist Lagodinsky erklärt, dass aus einem unangenehmen nun ein aggressives Klima geworden sei.

Druck aus dem Ausland

Die russischen Organisationen und Beratungsstellen hoffen nun auf Druck aus dem Ausland. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe des Bundestages verurteilte das Gesetz bereits einhellig. Russland verstoße damit gegen internationale Verpflichtungen zum Schutz seiner Bürger vor Diskriminierung, darunter auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die Russland ratifiziert habe, hieß es in einer Erklärung.

Angesichts der staatlichen Diskriminierung sowie der offenen Gewalt stellten die Grünen nun an die Bundesregierung die Frage, ob Schwule und Lesben deswegen nicht mehr in die russische Föderation abgeschoben würden.

Reisewarnung zu Olympia?

Außerdem wollen die Grünen wissen, ob es zu den Olympischen Spielen in Sotschi eine präzise Reisewarnung geben wird. Denn dass das diskriminierende Gesetz auch für Ausländer und während der Spiele gilt, hat Russland unlängst deutlich gemacht.

Die Frage, ob es eine Reisewarnung für schwule und lesbische Sportler bzw. Besucher geben wird, soll die Bundesregierung bis Mitte der Woche beantworten.