Eine Frau stimmt bei der Gouverneurswahl in Irkutsk ab.
Interview

Regionalwahlen "Russische Gesellschaft ist nicht homogen"

Stand: 12.09.2020 20:15 Uhr

Bei den Regionalwahlen in Russland haben oppositionelle Kandidaten die größten Chancen, sagt der Experte Grigorenko im Interview. Er erklärt, wo bei aller Farce im Kleinen Raum für Veränderung bleibt.

tagesschau.de: Seit 2006 gibt es in Russland im September den "Einheits-Abstimmungstag", an dem in etlichen Verwaltungssubjekten Gouverneurswahlen, Parlamentswahlen oder beides zugleich stattfinden. Wozu ist das gut?

Oleg Grigorenko: An sich ist so ein einheitlicher Wahltag nichts Ungewöhnliches - in den USA gibt es etwa den "Election Day" im November, an dem alle Abstimmungen auf Bundesebene stattfinden. Bei uns wurde der Einheitswahltag allerdings aus polittechnologischen Überlegungen auf den September gelegt (Mit "Polittechnologie" werden in Russland manipulative Strategien zur Beeinflussung politischer Prozesse wie Wahlen bezeichnet, Anmerkung der Redaktion): So muss der Wahlkampf im Sommer stattfinden - das sind die Monate, in denen in Russlands Regionen das Leben praktisch zum Erliegen kommt.

Die Leute fahren in den Urlaub und nur wenige befinden sich an ihrem Wohn- und Wahlort - auch wenn dieses Jahr da etwas aus der Reihe fällt. Es ist die Zeit, in der die Leute so gut wie keine Nachrichten lesen. Der Sinn des Einheits-Abstimmungstags besteht also darin, die Wahlkampfaktivität vor den Wahlen so weit wie möglich herunterzufahren.

Zur Person

Oleg Grigorenko ist Chefredakteur des Portals "7x7", für das ein Netz unabhängiger Journalisten und Blogger aus der russischen Provinz berichtet. Es soll ein Gegengewicht zur Berichterstattung abseits der Machtzentren Moskau und Sankt Petersburg schaffen.

tagesschau.de: Wer trägt den Wahlkampf denn dann überhaupt aus?

Grigorenko: Es gibt die Kremlpartei "Geeintes Russland", die über Staatsgelder und Informationen verfügt - sie haben die meisten Möglichkeiten, von sich zu erzählen und haben auf jeden Fall die Ressourcen, ihre Wähler zu mobilisieren. Und es gibt Leute, die in Ämter gewählt werden möchten, die "Geeintes Russland" einnimmt. Jedem oppositionellen Kandidaten stellen sich zwei Aufgaben: Erstens müssen die Leute ihn oder sie überhaupt kennen. Zweitens müssen diese Leute auch zur Abstimmung gehen. Die oppositionellen Kandidaten müssen erst einmal erklären, dass es eine Alternative gibt - und dann, dass die Leute sie auch wählen sollen.

Kandidatenausschluss durch formale Haken

tagesschau.de: Bei den Präsidentschaftswahlen kämpfte "Geeintes Russland" zuletzt mit Gutscheinen und üppigen Buffets in den Abstimmungslokalen gegen sinkende Wahlbeteiligung - weil der Ausgang der Wahlen in der Regel als abgemacht galt. Gibt es bei den Regionalwahlen noch Raum für Überraschungssiege?

Grigorenko: Die Regierung bemüht sich, die Zahl solcher "Überraschungen" zu minimieren. Ihre Ressourcen werden darauf verwandt, dass die gewünschten Kandidaten gewählt werden - nicht unbedingt immer die von "Geeintes Russland", sondern auch Kandidaten, die formal nicht der gleichen Partei angehören, aber de facto regierungstreu sind, um für die Leute eine "Abwechslung" zu schaffen. Es gibt die Kommunisten, die so etwas wie wie um die Macht kämpfen, aber doch nie gewinnen, und dann gibt es die Parteien LDPR und "Gerechtes Russland" - sie erfüllen die Funktion von Protestparteien. Wobei gilt: Je niedriger die administrative Ebene, auf der abgestimmt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für Überraschungen.

Zwei junge Leute in Nowosibirsk gehen an einem Wahlplakat der Partei "Geeintes Russland" vorbei.

Zwei junge Leute in Nowosibirsk gehen an einem Wahlplakat der Partei "Geeintes Russland" vorbei.

tagesschau.de: Was ist, wenn der Regierung missliebige Kandidaten auf lokaler Ebene populär werden?

Grigorenko: Die Gouverneurswahlen in der autonomen Region Komi und in der Oblast Archangelsk sprechen da Bände. Dort sind die Gouverneure am gleichen Tag abgetreten - aus Gründen, die mit den Protesten gegen die dort geplante Mülldeponie Schijes zusammenhängen. Moskau schickte neue Leute mit "sauberem" Hintergrund als kommissarische Gouverneure dort hin. Und sowohl in Archangelsk als auch in Komi gibt es starke alternative Kandidaten - beide kamen nach oben, weil sie den Interessen der Schijes-Protestbewegung Ausdruck verliehen.

In Archangelsk war es Oleg Mandreykin. Man verweigerte ihm die Kandidatur - aus formalen Gründen. Denn ein Kandidat für die Gouverneurswahlen muss Unterschriften bei den Abgeordneten der Gemeinderäte sammeln - und Mandreykins Liste wurde als gefälscht angesehen, weil einige Abgeordnete auch auf der Liste anderer Kandidaten unterschrieben hatten. In Komi sollte Oleg Michaijlow der alternative Kandidat werden - wieder fand man formaljuristische Haken, die ihm die Registrierung untersagten.

"Smart Voting" als Form der Protestabstimmung

tagesschau.de: Spielen für die Russen Ereignisse wie die Vergiftung des Anti-Korruptions-Aktivisten Alexej Nawalny oder die Proteste in Belarus eine Rolle für ihre Wahlentscheidung?

Grigorenko: Die russische Gesellschaft - als Gesamtes und in jeder Region - ist nicht homogen. Man kann nicht sagen, dass wir einen Diktator haben, dem der Rest des Landes entgegensteht.

Es gibt Leute, die für den Erhalt des Status Quo eintreten, weil sie Angst vor einer Erschütterung haben: Sie meinen, dass jegliche Erschütterung entweder zu einer Revolution wie 1917 oder den Verhältnissen der Neunzigerjahre führen wird, als der Zerfall der Sowjetunion vor sich ging - ein wirklich schmerzhafter Prozess. Diese Leute haben die Einstellung: Jetzt ist es nicht besonders gut, aber dann wird es noch viel schlimmer.

Und es gibt Leute, die gegen den Erhalt des etablierten Systems eintreten, weil die Verhältnisse, in denen wir uns befinden, der Gesellschaft keine Entwicklung zulassen. Nichts bewegt sich vorwärts. Das sind Unternehmer, Journalisten, Theaterkünstler - ziemlich öffentliche Persönlichkeiten. Das ist jetzt eine grobe Unterteilung, tatsächlich gibt es innerhalb der Gruppen noch Unterschiede.

Meinem subjektiven Eindruck nach sind 60 Prozent dafür, dass sich nichts rühren soll - "wir werden uns schon einrichten". Und 40 Prozent sagen: "Leute, wir können nicht mehr, lasst uns das beenden". Beide Gruppen verfolgen aufmerksam das Nachrichtengeschehen. Es bewegt sie, aber es trifft auf ihre jeweilige Grundeinstellung. Ist jemand konservativ, meint er: "In Belarus fangen jetzt die schrecklichen Neunzigerjahre wieder an und es wird ihnen schlechter gehen als zuvor". Was Nawalny angeht, denkt so jemand dann: "Mag sein, dass sie ihn vergiftet haben. Aber das hat er ja auch verdient. Es geschah aus gutem Grund: Er wollte doch bei uns alles kaputt machen!"

Andrang an einem Buffet-Stand in einem Wahllokal in Kazan.

Andrang an einem Buffet-Stand in einem Wahllokal in der Stadt Kasan.

tagesschau.de: Wie kommt bei den Russen Nawalnys Konzept des "Smart Voting" an?

Grigorenko: Vor der Einführung des Einheits-Abstimmungstags wurde aus dem Abstimmungszettel der, wie ich ihn nenne, beliebteste Kandidat entfernt: Der Kandidat "Gegen Alle". Seitdem sind die Leute tatsächlich gezwungen, eine politische Wahl zu treffen, selbst wenn nicht einer der Kandidaten ihnen passt. Ich kann nicht sagen, dass die Abstimmung "Gegen Alle" megapopulär war. Aber in meiner Laufbahn als Journalist gab es Fälle, in denen der Kandidat "Gegen Alle" gewann und man Neuwahlen ansetzen musste.

Indem sie diese Möglichkeit abschafften, wurden die Leute gezwungen, eine Wahl zu treffen. Das "smart voting" ist eine Möglichkeit, Protest gegen den Status Quo auszudrücken.

Schnelle Zugeständnisse vor den Wahlen

tagesschau.de: Gibt es für die Opposition überhaupt Möglichkeiten, auf regionaler Ebene konkret etwas zu verändern?

Grigorenko: Ich habe ein gutes Beispiel dafür, wie bei uns in Woronesch auf kommunaler Ebene die Wahlen benutzt werden, um Probleme zu lösen. Die Aufgabe der Regierung ist ganz einfach: Den Sieg bestimmter politischer Akteure sicherzustellen. Die Zeit vor den Wahlen ist eine Zeit, in der man jedes beliebige Problem öffentlich machen kann - und die Regierung löst es, damit nur ja alle abstimmen, wie sie sollen.

Vor genau einer Woche bereitete ein lokaler Bauherr die Abholzung eines städtischen Waldstücks vor. Die lokale Bevölkerung war empört und forderte, dass die Grünfläche erhalten bleibt. Sofort fuhren die oppositionelle Kandidaten zum Ort der Auseinandersetzung und erklärten: "Wir sind für die Bürger! Wir sind für die Grünfläche!" und so weiter. Blitzschnell kamen auch die Kandidaten von "Geeintes Russland" an und fingen an zu rufen: "Wir sind für die Bürger! Was für eine Gesetzlosigkeit geht hier vor sich…"

Und der Gouverneur sagte: "Hier wird ein Park eingerichtet, hier muss nichts gefällt oder zerstört werden, alles kommt in Ordnung". Dieser Konflikt dauerte seit sechs Jahren an, buchstäblich seit 2014. Aber kurz vor den Wahlen wurde er gelöst.

Die Fragen stellte Jasper Steinlein, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 12. September 2020 um 12:00 Uhr.