Die belarusische Oppositionelle Olga Kowalkowa im ARD-Interview.
Interview

Oppositionelle aus Belarus "Niemand ist davongerannt"

Stand: 08.09.2020 17:50 Uhr

Die belarusische Oppositionelle Kowalkowa berichtet im ARD-Interview von den Umständen, unter denen sie sich auf die Ausreise nach Polen einließ - und warum sie keine Forderungen an Warschau, wohl aber an Moskau stellt.

ARD: Was ist passiert, dass Sie jetzt in Polen sind?

Olga Kowalkowa: In der Nacht von Samstag auf Sonntag hat mich der belarusische Sicherheitsapparat aus der Untersuchungszelle gebracht, in der ich bis dahin saß - ich hatte eigentlich 15 Tage Haft bekommen - brachte mich zur belarusisch-polnischen Grenze und beförderte mich aus dem Land. Meine Ausreise war weder meine Idee noch mein Wunsch - das ist eine Situation der Gesetzlosigkeit, in der die belarusische Regierung politische Gegner wie Swetlana Tichanowskaja aus dem Land befördert, damit sie nicht am politischen Leben des Landes teilnehmen und nicht dort leben können.

ARD: Wie lief Ihre - erzwungene - Ausreise ab?

Kowalkowa: Ich hatte schon zehn Tage Haft abgesessen, als Mitarbeiter des KGB zu mir kamen und mir sagten, dass ich nicht aus dem Gefängnis entlassen würde: Meine Strafe würde wieder und wieder um 15 Tage verlängert. Sie sagten, meine Alternative sei, dass sie mich aus Belarus hinausbefördern - das hätten sie nicht gemacht, wenn sie davon ausgegangen wären, dass ich selbst das Land verlasse. Am Abend zogen sie mir eine Maske über, setzten mich ins Auto und fuhren mich zur polnischen Grenze.

Vor der Grenze händigten sie mir meinen Ausweis und eine Bescheinigung aus, dass ich nicht das Coronavirus habe - ich überreichte sie der Grenzwache. Diese schlug mir vor, mir ein Taxi zu rufen - aber es kam ein Bus und sie baten den Fahrer, mich zu einer bestimmten Stadt mitzunehmen. Der Fahrer war einverstanden - er erkannte mich sogar und war froh zu sehen, dass ich gesund bin.

"Wir werden zurückkehren"

ARD: Machen Sie sich Sorgen um Ihre Familie?

Kowalkowa: Meine Eltern befinden sich in Belarus. Natürlich habe ich mir nach meiner Festnahme große Sorgen um meinen Vater gemacht. Er hat Herzprobleme - und natürlich ist das einer der Hintergründe meiner Entscheidung: Wäre ich erst in einigen Monaten freigekommen, wäre mein Gesundheitszustand sicher schlechter als jetzt. Nicht alle Leute, die in den Gefängnissen arbeiten, halten sich an die Gesetze. Der Umgang mit den Inhaftierten steht in keiner Weise in Einklang mit den Menschenrechten.

ARD: Was steckt hinter der Strategie, oppositionelle Kräfte aus dem Land zu treiben?

Kowalkowa: Es fällt mir schwer, die Logik der belarusischen Regierung nachzuvollziehen. Eine ihrer Aufgaben ist es natürlich, den Koordinierungsrat und die Anführer auseinanderzutreiben. Die eine ist ausgereist, die andere sitzt im Gefängnis... Sie wenden verschiedene Strategien an, um die Arbeit der Opposition zu zerrütten - damit es schwieriger für sie wird, zu wirken oder die Leute zu unterstützen, die das erreicht haben, wovor wir heute stehen. In erster Linie zielt es darauf ab, zu sagen: Schaut her, die ist davongerannt, die auch... Aber so ist das nicht! Niemand ist davongerannt. Wir werden zurückkehren und weiter an den notwendigen Veränderungen arbeiten.

Tausende Menschen demonstrieren in Minsk gegen Staatschef Lukaschenko - viele von ihnen schwenken weiß-rot-weiße Fahnen.

Seit vier Wochen versammeln sich Abertausende Belarusen zu Demonstrationen. Weder Festnahmen noch Repressalien gegen prominente Oppositionelle schüchtern sie ein.

"Dieser Protest kommt von unten"

ARD: Am Wochenende haben sich in Belarus ungeachtet dessen wieder viele Menschen zu Protesten versammelt - und erneut gab es Hunderte Festnahmen.

Kowalkowa: Ich verurteile dieses Vorgehen des Sicherheitsapprats als absolut unrechtmäßig und fordere, dass es eingestellt wird - denn das ist eine Kette: In den vergangenen 26 Jahren wurde aus einem Rechtsstaat ein Polizeistaat. Die Polizei folgt eigenen Gesetzen, die niemand von uns kennt. Sie geht so brutal vor, weil sie die Proteste beenden, ersticken möchten - weil sie glaubt, dass diese Proteste von irgendjemand angestiftet und kontrolliert werden. Aber dieser Protest kommt von unten! Die Leute gehen für ihre Sache auf die Straße. Nach der Wahl mussten die Belarusen feststellen, dass man sie erneut erniedrigt hatte - dass man sie ihren Präsident nicht selbst wählen ließ. Und danach hat jeder von ihnen sich entschieden, um seine Stimme zu kämpfen. Niemand hat die Leute aufgewiegelt. Und das ist gut! Es bedeutet, dass in Belarus ein Volk gibt und sich eine Zivilgesellschaft herausbildet.

ARD: Welche Forderungen stellen Sie an den Staat Polen?

Kowalkowa: Wir fordern nichts von irgendjemandem. Die Lösung dieser politischen Frage liegt innerhalb von Belarus. Wir begrüßen alle Länder, die hervortreten und demokratische Prinzipien und die Menschenrechte unterstützen - und den Menschen helfen, die auf diese oder andere Weise Repressionen ausgesetzt sind. Momentan ist diese Unterstützung sehr wichtig - sie muss von allen Staaten kommen, auch von Russland. Nicht nur die EU, auch Russland muss sich gegen die völlige Unrechtmäßigkeit dessen aussprechen, was in Belarus vor sich geht.

Die Fragen stellte Olaf Bock, ARD-Studio Warschau.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 08. September 2020 um 11:00 Uhr.