NATO-Gipfel in Wales Stärke zeigen, Provokationen vermeiden

Stand: 04.09.2014 05:39 Uhr

Beim NATO-Gipfel in Bukarest 2008 war die Osterweiterung um die Ukraine noch ein Thema. Beim NATO-Gipfel heute in Wales geht es um die Sicherheit des Bündnisses. Gegenüber Russland heißt dies: Stärke zeigen, Provokationen vermeiden.

Von Silvia Stöber, tagesschau.de

Es klang nach einem verzweifelten Hilferuf, als der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk am vergangenen Freitag ankündigte, sein Land werde die Bündnisneutralität aufgeben und wieder den Weg in Richtung NATO anstreben.

Jazenjuk dürfte klar sein, dass eine NATO-Mitgliedschaft alles andere als realistisch ist und beim Gipfeltreffen der Allianz in Wales nicht ernsthaft diskutiert wird. Nicht nur Kanzlerin Angela Merkel schloss dies aus. Bereits Ende März stellte US-Präsident Barack Obama in Brüssel klar: Die Ukraine ist nicht auf dem Weg zur Mitgliedschaft.

In der Ukraine selbst war die Bevölkerung schon immer darüber gespalten. Als 2008 der damalige Präsident Wiktor Juschtschenko bei der NATO einen Antrag auf einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft stellte, kam es zu heftigen Protesten in und vor dem Parlament in Kiew. Diese endeten erst, als die Abgeordneten festlegten, dass einem Beitrittsgesuch ein landesweites Referendum vorangehen müsse. Bis heute fand keines statt.

Die NATO wiederum verfolgt zwar eine Politik der "offenen Tür". In Artikel 10 des Nordatlantikvertrages heißt es, jeder europäische Staat könne zum Beitritt eingeladen werden. Im gleichen Satz wird aber eingeschränkt, der einzuladende Staat müsse in der Lage sein, zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen. Denn im Gegenzug gibt Artikel 5 des Vertrages jedem Mitgliedsstaat eine Sicherheitsgarantie: Ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Staaten wird als Angriff gegen alle angesehen. Das Bündnis ist in diesem Fall verpflichtet, sich kollektiv zur Wehr zu setzen.

Ein unhaltbares Versprechen

Der Bundesregierung war das Risiko schon 2008 zu hoch. Deshalb verhinderte Kanzlerin Merkel mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der französischen Regierung beim NATO-Gipfel in Bukarest, dass die Ukraine und Georgien einen Schritt in Richtung Mitgliedschaft vorankamen. Statt eines Aktionsplans für die Mitgliedschaft erhielten beide Staaten aber das Versprechen für eine Aufnahme zu einem unbestimmten Zeitpunkt. Russland ging auch dies zu weit. Präsident Wladimir Putin sprach als Gast beim NATO-Gipfel von einer Bedrohung für die Sicherheit seines Landes. Der Aussage, dass sich das Bündnis nicht gegen Russland richte, wollte er keinen Glauben schenken.

Dass das Aufnahmeversprechen aber nicht mit Schutz verbunden war, erlebte Georgien vier Monate später, als der Konflikt um das abtrünnige Gebiet Südossetien eskalierte. Russische Truppen marschierten ein und richteten massive Schäden an. Entgegen den Vereinbarungen eines Waffenstillstandsabkommens mit der EU errichtete Russland in Südossetien und Abchasien danach eine moderne Militärinfrastruktur mit mehr als 40 Stützpunkten.

Die rote Linie wird nicht überschritten

Die USA lieferten damals mit Militärschiffen und -flugzeugen humanitäre Hilfe nach Georgien. Die US-Schiffe mieden aber den russisch besetzten Schwarzmeerhafen Poti. Umgekehrt bombardierte die russische Luftwaffe nicht den Flughafen bei Tiflis, auf dem ein US-Militärtransportflugzeug abgestellt war. Es zeigte sich: Beide Seiten vermieden alles, was auf eine direkte Konfrontation hinauslaufen könnte. Das ist die rote Linie, die die NATO und Russland bislang einhalten.

Beim NATO-Gipfel in Wales wird es darum gehen, den Verlauf dieser roten Linie noch einmal zu markieren. Es soll Stärke demonstriert werden. Aber Provokationen, die Putin als Vorwand für weitere Aktionen dienen könnten, vermieden werden.

Darauf legt insbesondere die Bundesregierung wert. So hat die NATO nicht nur einen Militäreinsatz in der Ukraine ausgeschlossen. Merkel erklärte auch, es würden keine Waffen in die Ukraine geliefert. Aber die NATO unterstützt weiter die Reform des Sicherheitssektors und einige andere NATO-Staaten stehen der Ukraine bilateral bei.

NATO-Generalsekretär Anders-Fogh Rasmussen zufolge wird die Allianz ihre Einsatzfähigkeit mit einer Eingreiftruppe verbessern und ihre Präsenz in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten erhöhen. Die Infrastruktur wird verstärkt und es werden mehr Soldaten anwesend sein, wobei Rasmussen von einer "Rotation in hoher Frequenz" sprach. Dies ist einerseits ein Signal, dass die NATO ihre Beistandspflicht gegenüber den baltischen und den anderen osteuropäischen Staaten ernst nimmt. Andererseits soll dies aber im Rahmen der NATO-Russland-Grundakte von 1997 geschehen, auch wenn einige Länder dies inzwischen in Frage stellen. Das Abkommen besagt, dass es in den neuen NATO-Staaten keine umfangreichen und dauerhaften Truppenstationierungen geben soll.

Nicht zuletzt wird Georgien auch diesmal keinen Aktionsplan für die Mitgliedschaft erhalten, eine Aufnahme also nicht näher rücken. Aber die Südkaukasusrepublik wird als Partnerland aufgewertet. Sie soll stärker beteiligt werden an Maßnahmen zur Verbesserung der Kooperationsfähigkeit zwischen den Streitkräften der Allianz. Dazu zählt die Teilnahme an Ausbildungsmissionen und an Militärübungen. Auch wird das NATO-Verbindungsbüro in Tiflis vergrößert.

"Hybride Kriegsführung" als neue Herausforderung

Seitdem auf der Krim, begleitet von massiver Propaganda, russische Uniformierte ohne Hoheitszeichen einmarschiert sind, macht man sich in der NATO Gedanken, wie dieser "hybriden Kriegsführung" zu begegnen sei. Vor allem in den baltischen Staaten mit ihren russischen Minderheiten herrscht die Angst, auch dort könne wirtschaftlicher Druck ausgeübt und die Stimmung aufgeheizt werden, um dann russischen Bürgern "zu Hilfe" zu kommen, wie es Putin für alle Russen angekündigt hat.

NATO-Oberbefehlshaber Philip Breedlove kündigte in einem Interview mit der "Welt" bereits an, dass man Polizei und Armee in den osteuropäischen Staaten für Szenarien mit maskierten Uniformierten trainieren werde. Zudem stellte er klar, wo die rote Linie verläuft: Wenn ausländische Kräfte auf das Hoheitsgebiet von NATO-Ländern vordringen, dann tritt der Bündnisfall ein.

Was immer die NATO für eine höhere Sicherheit unternimmt, die Lage im Konfliktgebiet Ostukraine kann sie kaum beeinflussen. Im besten Fall bleiben nach abflauenden Kämpfen und einem Waffenstillstand ein abtrünniges Gebiet und ein eingefrorener Konflikt.

Dann kann Putin in der Ukraine ausführen, was Russland in Aserbaidschan, Armenien, Georgien und Moldau seit mehr als 20 Jahren praktiziert: Isolierte und verarmte Konfliktgebiete für militärische, politische und wirtschaftliche Einflussnahme über die eigenen Grenzen hinaus zu nutzen. Ein NATO-Beitritt der Ukraine wird ganz und gar unmöglich.