Interview

Interview mit dem Islamwissenschaftler Kai Hafez Antisemitismus: Islamische Welt am Scheideweg

Stand: 28.08.2007 17:08 Uhr

Zweiter Teil des Interviews mit dem Islamwissenschaftler Kai Hafez

tagesschau.de: Was wären die Kernelemente des radikalen Islamismus? Liest man die Erklärungen radikaler Islamisten, sind die Drohungen vor allem gegen Israel nicht zu übersehen. Der israelische Historiker Jehuda Bauer nannte den radikalen Islamismus unlängst "genozidal". Welche Rolle spielt der Antisemitismus in der islamistischen Ideologie?

Hafez: Der Antisemitismus gehört zu den wesentlichen Elementen der radikalislamistischen Vorstellung. Sie ist antizionistisch, zumindest in der Tendenz antisemitisch - beides wird heute im Übrigen nicht mehr klar unterschieden. Der Antiamerikanismus ist sicherlich ein weiteres Element. Schließlich ist der Antiautoritarismus gegenüber den eigenen Regierungen ebenfalls ein wichtiges Moment des radikalislamistischen Programms. All dies ist vor dem Hintergrund einer religiösen Erfüllungsideologie zu sehen. Den meisten islamistischen Extremisten tut man sicher nicht unrecht, wenn man sie in der Tendenz für antisemitisch hält.

Gleichzeitig darf man aber nicht vergessen, dass die Entstehungsbedingungen dieser Bewegungen und die große Sympathie für sie in der islamischen Welt eng mit dem Nahost-Konflikt und maßgeblich dem Versagen Israels und der USA, diesen zu lösen, verbunden sind. Ich erinnere daran, dass die Hamas von der israelischen Regierung als Konkurrenz zur palästinensischen PLO mit aufgebaut worden ist. Die PLO hat in den 70er und 80er Jahren versucht, zu einem politischen Gesprächspartner zu werden. In Europa hatte sie damit Erfolg, in Amerika und in Israel aber nicht.

Ähnlich verhält es sich in Afghanistan: Washington hat grade die Taliban-Bewegung über Jahre finanziell und politisch gefördert. Das bedeutet: Man hat mit dem Feuer gespielt, man hat diese Kräfte aufgebaut. Der islamistische Antisemitismus ist also zum Teil Produkt eben jener Unterstützung – auch wenn für seine Entstehung eine Reihe anderer Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen.

Damit steht die arabisch-islamische Welt heute an einem schwierigen Scheideweg. Traditionell spielt der Antijudaismus, der Antisemitismus in ihr eigentlich eher eine untergeordnete Rolle. In seiner vernichtenden Form, wie wir ihn in Europa und in Russland kannten, hat es ihn in der islamisch-arabischen Welt nie gegeben. Ganz im Gegenteil: Sie war noch im Zweiten Weltkrieg Zufluchtsort für viele Juden. Aber grade in jüngeren Jahren hat die Differenzierungsfähigkeit vor allem bei den jüngeren Generationen nachgelassen – und das betrifft nicht nur die extremistischen Islamisten. Viele Menschen können nicht mehr auseinanderhalten, was sie am Staat Israel, was sie am politischen Zionismus und was sie an Juden kritisieren. Insofern kann man die These vertreten, dass das die islamisch-arabische Welt möglicherweise am Anfang der Herausbildung eines tatsächlichen Antisemitismus steht.

So sehr man Islam und Islamismus unterscheiden muss, ist das beiden gemeinsam. Es handelt sich um ein Problem, das sich die arabisch-islamischen Gesellschaften insgesamt stellen müssen. Sie müssen Widerstandskräfte entwickeln, um sich deutlich von der antisemitischen Ideologie der islamistischen Extremisten abzusetzen. Das passiert bislang nicht in der Schärfe, die notwendig wäre. Aber es gibt solche Stimmen, auch wenn die intellektuellen Debatten darüber erst im Anfang begriffen sind.

Ich meine allerdings, aus der Perspektive Europas hat man in dieser Hinsicht nicht den moralischen Zeigefinger zu heben. Ganz im Gegenteil müsste man sich hier an die eigene Geschichte erinnern. Zudem sollte man nie den Ursprung all dieser fatalen Entwicklungen vergessen: Ich behaupte, wenn man den Nahost-Konflikt zur Zufriedenheit beider Seiten löst, werden sich auch die Vorurteile gegen Juden innerhalb weniger Generationen stark relativieren. Der Antisemitismus in der islamisch-arabischen Welt ist heute noch kein historisches Phänomen und kann sicherlich noch abgewendet werden. Wenn der Nahost-Konflikt aber noch einmal 50 Jahre währt, wird es sehr schwer, die Vorurteile zu revidieren.